Gret Palucca
Gret Palucca, geboren als Margarete Paluka (* 8. Januar 1902 in München; † 22. März 1993 in Dresden) war eine deutsche Tänzerin und Tanzpädagogin.
Leben
BearbeitenGret Paluccas Eltern waren der aus Konstantinopel stammende Apotheker Max Paluka und Rosa Paluka, die jüdisch-ungarischer Herkunft war.[1] Kurz nach ihrer Geburt in München zog die Familie nach San Francisco, Kalifornien. Im Jahr 1909 kehrte Gret mit ihrer Mutter Rosa nach Deutschland zurück und kam nach Dresden, wo sie von 1914 bis 1916 Ballettunterricht bei Heinrich Kröller erhielt. Sie besuchte vorher und nachher die Lehr- und Erziehungsanstalt Margarete Balsat.
Schon als Ballettelevin stand Gret Palucca dem klassischen Tanz mit Skepsis gegenüber. Der Besuch einer Dresdner Tanzveranstaltung mit Mary Wigman wurde für sie zu einem Schlüsselerlebnis und Palucca zu einer der ersten Schülerinnen Wigmans. Im Jahr 1921 änderte sie ihren Namen zu Gret Palucca. Bis 1924 tanzte sie in Wigmans Gruppe. Dann begann Palucca mit ihrer Solokarriere und wurde eine der führenden Ausdruckstänzerinnen. Ihr Stil war fröhlich, unbeschwert und humorvoll, wie etwa die Choreografie von In weitem Schwung oder Tanzfreude vermitteln.
Ab 1924 war Gret Palucca sechs Jahre mit Fritz Bienert verheiratet, dem Besitzer eines Mühlenbetriebes, der Bienertmühle in Dresden und Sohn von Ida Bienert, der ersten privaten Kunstsammlerin der Modernen Kunst in Deutschland. In ihrem Hause gingen die Künstler des Dadaismus ebenso ein und aus wie die Architekten des jungen Bauhauses, wo ihre Tochter Ise Bienert, eine Worpswede-Schülerin, studierte. Palucca wurde zum Thema der Neuen Kunst. Mit ihrem Ehemann verbrachte sie ihre Sommerurlaube ab 1924 regelmäßig auf der Insel Sylt.
Im Jahr 1925 gründete Gret Palucca ihre eigene Schule. Die Palucca-Schule in Dresden unterschied sich maßgeblich von anderen Schulen ihrer Art. Nicht der körperliche Drill stand im Vordergrund, sondern die geistig-künstlerische Erziehung. Zu ihren bekanntesten Schülerinnen zählen Ruth Berghaus und Lotte Goslar sowie Annerose Schunke, die spätere DDR-Nachrichtensprecherin Annerose Neumann.
Im Jahr 1926 schrieb Wassily Kandinsky zwei beachtete Aufsätze über Palucca, die zu ihrem wachsenden Bekanntheitsgrad beitrugen. Am 29. April 1927 trat Palucca im Bauhaus in Dessau auf.
„Palucca verdichtet den Raum, sie gliedert ihn: der Raum dehnt sich, sinkt und schwebt – fluktuierend in allen Richtungen.“
Im Jahr 1930 trennte sich Gret Palucca von Fritz Bienert und begann ein Verhältnis mit dem Kunsthistoriker Will Grohmann, mit dem sie auch häufig auf Sylt war. Im Jahr 1935 schrieb er die erste Monographie über sie, unter dem Pseudonym Olaf Rydberg.
Bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin nahm Palucca am Eröffnungsabend mit einem Soloauftritt teil.
Gret Palucca hatte im „Dritten Reich“ kein Auftrittsverbot[2][3] mit Ausnahme von staatlichen und NSDAP-Veranstaltungen bis zur Schließung aller Theater 1944.[4] Die Legende vom vollständigen Auftrittsverbot hat vermutlich im Interesse der Kulturverantwortlichen in der DDR gelegen. Durch eine von Grohmann erwirkte Sondergenehmigung 1936 konnte Palucca trotz ihrer Stigmatisierung als sogenannte „Halbjüdin“ weiterhin als Tänzerin auftreten, Auslandsgastspiele wurden ihr anfangs noch gestattet, dann aber verboten.[5] Die Presse durfte ihre Auftritte nicht mehr positiv besprechen. Auf Provinzebene wurde die ungebrochen beliebte Ausdruckstänzerin jedoch weiterhin gewürdigt.[6] Am 31. März 1939 wurde ihre Schule geschlossen.
Am 1. Juli 1945 eröffnete Gret Palucca wieder ihre Tanz-Schule in der Karcherallee 43 in Dresden. Im Jahr 1949 wurde diese Palucca-Schule verstaatlicht. Zum 75. Geburtstag von Wilhelm Pieck im Jahr 1951 gab sie ihren letzten Soloauftritt. Bis ins hohe Alter blieb Gret Palucca als Tanzpädagogin tätig, doch ihr Ausdruckstanz entsprach nicht dem neuen Geist der Zeit. Unter dem Begriff Neuer Künstlerischer Tanz versuchte Gret Palucca weiterhin, ihre Ausrichtung im Lehrplan beizubehalten. Das klassische Ballett beherrschte aber die Ausbildung. Entnervt verließ sie 1959 die DDR, ging nach Sylt und verhandelte von dort aus über die Bedingungen ihrer Rückkehr.[7] Als Zugeständnis erhielt Gret Palucca die künstlerische Leitung der Tanzschule in Dresden zugesichert sowie eine Professur, einen Wagen mit Chauffeur und ein Grundstück auf Hiddensee.
An der Gründung der Deutschen Akademie der Künste in Berlin (Ost) 1950 war sie beteiligt. Von 1965 bis 1970 war sie Vizepräsidentin.
Sie starb im Jahr 1993 und wurde auf Hiddensee beigesetzt, wo sie seit 1948 alljährlich ihre Sommeraufenthalte verbracht hatte. Das 1961 gebaute Palucca-Haus wurde 2009 von einem Investor abgerissen. In den 1920er Jahren hatte es auf Hiddensee eine Künstlerkolonie gegeben, in der sie zuweilen zu Gast war.
Auszeichnungen
Bearbeiten- Ehrenurkunde der Internationalen Tanzfestspiele anlässlich der XI. Olympiade, Berlin 1936
- Vaterländischer Verdienstorden in Bronze (1958), in Gold (1972), Ehrenspange (1985)
- Nationalpreis der DDR für Kunst und Literatur II. Klasse (1960 und 1976), I. Klasse (1981)
- Johannes-R.-Becher-Medaille in Gold (1964)
- Pestalozzi-Medaille für treue Dienste in Silber (1966) und Gold (1975)
- Orden „Banner der Arbeit“ (1967)
- Martin-Andersen-Nexö-Kunstpreis der Stadt Dresden (1972)
- Ehrenmitglied des Verbandes der Theaterschaffenden der DDR, Berlin (1975)
- Ehrenbürgerin der Stadt Dresden (1979)
- Stern der Völkerfreundschaft in Gold (1980 und 1987)
- Deutscher Tanzpreis, Essen (1983)
- Ehrenmitglied der Deutschen Akademie des Tanzes, Köln (1987)
- Ehrenmitglied der Akademie der Künste Berlin (1991)
- Großes Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland (1992)
Bildergalerie
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1929–1930[8]
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1930
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1931
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Foto: Hans Robertson, 1920er Jahre
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Foto: Hugo Erfurth, circa 1926
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Ritzgrafik nach Entwürfen von Michel Dahne und Heike Böttcher, Kanzleigäßchen 2, Dresden
Würdigungen
BearbeitenIhre langjährigen Gastgeber bei ihren Sommerurlauben in List auf Sylt benannten in den frühen 1960er Jahren ihr erstes Ausflugsschiff nach ihrem Namen „Palucca“; auch alle nachfolgende Schiffe dieser kleinen Reederei trugen die Namen „Palucca“ oder „Gret Palucca“. Noch heute fährt ein Ausflugskutter der Adler-Reederei, die die Linien der alten Palucca-Reederei übernommen hat, unter dem Namen „Gret Palucca“, ein weiterer unter dem Namen ihrer Mutter, „Rosa Paluka“.
In Dresden gibt es die Gret-Palucca-Straße. Auch in München Aubing wurde 2014 der Gret-Palucca-Weg nach ihr benannt.[9]
Am 8. Oktober 1998 wurde eine Briefmarke im Wert von 4,40 DM mit Paluccas Porträt im Rahmen der Briefmarkenserie Frauen der deutschen Geschichte herausgegeben.
Im Museum Hofmühle Dresden im Stadtteil Plauen befindet sich eine Dauerausstellung über Paluccas Leben und Werk.
An einem Haus im Dresdner Kanzleigäßchen wurde eine Fassade mit Bildern Paluccas im Tanz gestaltet.[10]
Literatur
Bearbeiten- Monographien
- Olaf Rydberg (d. i. Will Grohmann): Die Tänzerin Palucca. Reissner, Dresden 1935.
- Werner Schmidt: Künstler um Palucca. Ausstellung zu Ehren des 85. Geburtstages. Kupferstich-Kabinett. Staatliche Kunstsammlung Dresden, Dresden 1987.
- Peter Jarchow, Ralf Stabel: Palucca. Aus ihrem Leben. Über ihre Kunst. Mit einem Geleitwort von Ingrid Biedenkopf. Henschel, Berlin 1997, ISBN 3-89487-266-7.
- Katja Erdmann-Rajski: Gret Palucca. Tanz und Tanzerfahrung in Deutschland im 20. Jahrhundert. Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Deutsche Demokratische Republik. Hrsg. vom Deutschen Tanzarchiv Köln. Dissertation. Olms, Hildesheim 2000, ISBN 3-487-11143-8.
- Ralf Stabel: Tanz, Palucca! Die Verkörperung einer Leidenschaft. Die Biografie. Henschel, Berlin 2001, ISBN 3-89487-397-3.
- Ralf Stabel: Vorwärts – Rückwärts – Seitwärts – mit und ohne Frontveränderung. Zur Geschichte der Palucca Schule Dresden. Noetzel, Wilhelmshaven 2002, ISBN 3-7959-0799-3.
- Gret Palucca: Schriften, Interviews, Tanzmanuskripte. Hg. und mit einem Nachwort von Huguette Duvoisin und René Radrizzani. Schwabe, Basel 2008, ISBN 978-3-7965-2425-7.
- Susanne Beyer: Palucca – Die Biografie. AvivA Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3-932338-35-9.
- Ralf Stabel: Palucca. Ihr Leben, ihr Tanz. Henschel Verlag, Leipzig 2019. ISBN 978-3-89487-807-8.
- Aufsätze (Auswahl)
- Ralf Stabel: Palucca, Gret. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 20, Duncker & Humblot, Berlin 2001, ISBN 3-428-00201-6, S. 24 f. (Digitalisat).
- Marion Kant: Gret Palucca und der avancierte Tanz in Dresden. In: Dresden und die avancierte Musik im 20. Jahrhundert. Teil II: 1933–1966. Hrsg. von Matthias Herrmann und Hanns-Werner Heister. Laaber 2002, ISBN 3-89007-510-X, S. 361–372 (Musik in Dresden 5).
- Michaela Karl: Gret Palucca: Die Tänzerin. In: Bayerische Amazonen – 12 Porträts. Pustet, Regensburg 2004, ISBN 3-7917-1868-1, S. 190–208.
- Kornelia Knospe: Palucca, Gret. In: Wer war wer in der DDR? 5. Ausgabe. Band 2. Ch. Links, Berlin 2010, ISBN 978-3-86153-561-4.
- Hubertus Adam: „Meine schönste Zeit war am Bauhaus“. Palucca in den Netzwerken der Avantgarde. In: Hubertus Adam, Sally Schöne (Hrsg.): Ausdruckstanz und Bauhausbühne. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2019, ISBN 978-3-7319-0852-4, S. 58–79.
Weblinks
Bearbeiten- Literatur von und über Gret Palucca im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Literatur von und über Gret Palucca in der Sächsischen Bibliografie
- Gret-Palucca-Archiv im Archiv der Akademie der Künste, Berlin
- Seite zu Palucca beim Deutschen Tanzarchiv Köln.
- Angela Rannow: Gret Palucca (1902–1993). In: Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (Hrsg.): Sächsische Biografie.
- Gret Palucca. In: FemBio. Frauen-Biographieforschung (mit Literaturangaben und Zitaten).
- Offizielle Seite der Palucca-Schule Dresden – Hochschule für Tanz
Filme
Bearbeiten- „Ich will nicht hübsch und niedlich tanzen.“ ( vom 24. Oktober 2007 im Internet Archive) Film über Palucca
- Tanz unterm Hakenkreuz. Dokumentation, Deutschland 2003, 60 Min., Buch und Regie: Annette von Wangenheim
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Ralf Stabel: Tanz, Palucca! Die Verkörperung einer Leidenschaft. Henschel-Verlag, Berlin 2001.
- ↑ Ralf Stabel: Tanz, Palucca! Die Verkörperung einer Leidenschaft. Henschel, Berlin 2001, S. 118.
- ↑ Susanne Beyer: Palucca – Die Biografie. AvivA, Berlin 2009, S. 188.
- ↑ Katja Erdmann-Rajski: Gret Palucca. Tanz und Tanzerfahrung in Deutschland im 20. Jahrhundert. Olms, Hildesheim 2000, S. 297
- ↑ K. Erdmann-Rajski: Gret Palucca, S. 278
- ↑ Jörg Fligge: "Schöne Lübecker Theaterwelt". Das Stadttheater in den Jahren der NS-Diktatur. Schmidt-Römhild, Lübeck, 2018, ISBN 978-3-7950-5244-7, S. 305f., 573 (Auftritte in Lübeck bis 1943).
- ↑ Susanne Beyer: „Abriss eines Sehnsuchtsorts“, Spiegel online, 26. März 2009
- ↑ siehe Hyang-Sook Kim: Die Frauendarstellungen im Werk von Ernst Ludwig Kirchner, verborgene Selbstbekenntnisse des Malers. Tectum-Verlag, Marburg 2002, ISBN 3-8288-8407-5, S. 183.
- ↑ Gret-Palucca-Weg in München Aubing-Lochhausen-Langwied. Abgerufen am 21. Februar 2023.
- ↑ Neumarkt Dresden „Tanz an der Fassade“ ( vom 22. Oktober 2013 im Internet Archive)
Personendaten | |
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NAME | Palucca, Gret |
ALTERNATIVNAMEN | Paluka, Margarete (Geburtsname) |
KURZBESCHREIBUNG | deutsche Tänzerin und Tanzpädagogin |
GEBURTSDATUM | 8. Januar 1902 |
GEBURTSORT | München |
STERBEDATUM | 22. März 1993 |
STERBEORT | Dresden |