Der Eisenbahnknotenpunkt Olten in der Schweiz
Der langsam und unwiderstehlich, gleich einer Naturkraft wirkende Einfluß der Eisenbahnen, der Alles von seiner Stelle rückt, aus Einöden Marktplätze und aus bevölkerten Thälern Einöden macht, Dörfer in Städte und Städte in Dörfer umwandelt, macht sich auch in der Schweiz fühlbar. Gestatten Sie mir, diesen bereits trivial gewordenen Satz durch ein Beispiel aus Hunderten zu erläutern.
Olten, am Südfuße des Jura und an der Aar gelegen, war vor einem Jahrzehnt nicht mehr noch weniger als ein kleines Landstädtchen. Zwar zählte es sich schon damals keineswegs zu den geringsten in Israel, nicht sowohl deshalb, weil es schon zur Römerzeit bestanden hatte, wo es Ultinum hieß, sondern vielmehr wegen des stets bewährten freisinnigen, vielleicht sogar etwas revolutionären Geistes seiner Einwohnerschaft, und dann weil es einige Namen von gutem Klang, den schweizerischen Bundespräsidenten Munzinger, den genialen Maler Disteli, zu seinen Bürgern zählte. Dennoch war Olten mit seinen 1600 Einwohnern nichts Anderes als ein Landstädtchen, wo jedes Jahr ein paar besuchte Jahrmärkte abgehalten wurden und täglich einige Postwagen die Pferde wechselten.
Da kamen die Eisenbahnen. Der Bau des Hauensteintunnels, schauerlichen Angedenkens, wurde begonnen und zu Ende geführt. Durch die innersten Eingeweide des Jura rasselten die Locomotiven und verbanden Basel mit der innern Schweiz. Von Olten, welches an die Ausmündung des Tunnels zu stehen kam, breiteten sich die Schienenwege fächerförmig aus: östlich nach Zürich, St. Gallen und den Bodensee, südlich nach Luzern und den Vierwaldstättersee, westlich nach der Bundesstadt Bern, nach Biel und den Seen von Neuchatel und Genf. Das Landstädtchen war zu einem Eisenbahnknotenpunkt geworden. Als nächste Folge entstand ein weitläufiger Bahnhof, in welchem stündlich lange Wagenzüge ein- und ausfahren, – lange und breite Hallen von Ein- und Aussteigenden wimmelnd, endlich eine geräumige Eisenbahnwirthschaft, wo hungrige und durstige Reisende in ungeduldiger Hast die Bedürfnisse ihres Magens und Gaumens befriedigen. Dahin kommen nun Tag für Tag die alten Bürger von Olten und lassen die Passagiere aus aller Herren Länder, die hier zum Wagenwechsel gezwungen sind, Musterung passiren, lauschen der babylonischen Sprachverwirrung, vergleichen das Einst und Jetzt und freuen sich, daß republikanische [133] Tugend doch einmal ihren Lohn erhalten und der glückliche Zufall gerade sie betroffen habe.
So viel steht fest, daß so ziemlich Alles, was die Schweiz bereist, durch den Bahnhof von Olten passiren und dort aussteigen muß. Mögen die Touristen vom Leman zum Bodensee, vom Gotthard zum Rhein, vom Rigi zum Weißenstein reisen, mögen sie von Paris oder München oder London herkommen – den Bahnhof von Olten müssen sie mindestens einmal berühren. Da ist’s dann in Wahrheit kein schlechter Spaß, all’ die Leute, die sich auf den Trottoirs und in den Erfrischungssälen drängen, gleich den Bildern einer laterna magica an sich vorbeiziehen zu lassen. Auch fehlt es nicht an Gelegenheit, hie und da eine interessante Persönlichkeit und europäische Berühmtheit von Angesicht zu Angesicht zu sehen, wie z. B. den Grafen Chambord, da er an den Legitimistencongreß nach Luzern fuhr, oder die arme Königin von Neapel, als sie ihrem Gatten aus Rom entflohen. … Als Eisenbahnknotenpunkt ist Olten dann auch zum natürlichen Stelldichein und Zusammenkunftsort schweizerischer Vereine und Versammlungen geworden. Universitätsprofessoren und Zündhölzchenfabrikanten, Thierärzte und Blechmusiker, Sänger, Landwirthe, Naturforscher, Pfarrer, Apotheker und Schullehrer halten hier ihre Berathungen und Bankete. Genaue statistische Notizen, wie viel in Olten für’s Vaterland gegessen, getrunken und gesprochen wird, würden wahrscheinlich die Welt in Erstaunen setzen.
Die Eisenbahn als freundliches Christkindlein hat aber den Oltnern nebst ihrem wimmelnden Bahnhof noch eine zweite Gabe bescheert, eine Maschinenfabrik oder „Centralreparaturwerkstätte“. Es ist dies eine Heilanstalt für sämmtliche unpäßlich gewordene Locomotiven, ein Lazareth für alle im Dienst beschädigten und verletzten Waggons der schweizerischen Centralbahn; es werden darin auch außerdem neue Locomotiven in die Welt gesetzt, eiserne Brücken geschmiedet, Drehscheiben construirt, kurz alles dasjenige verfertigt, was – aus Metall oder Holz bestehend – zum Betrieb einer Eisenbahn gehört. Diese mechanische Werkstätte beschäftigt heute schon nahe an 400 Arbeiter, durch welche die Bevölkerung des Städtchens um ein ganzes Fünftheil vermehrt wurde. Die nächste Folge der Errichtung dieser industriellen Anstalt gab sich eigenthümlicher Weise auf kirchlichem Boden kund. Da viele Arbeiter der reformirten Confession angehören, so wurde aus lauter freiwilligen Beiträgen im katholischen Olten eine protestantische Kirche erbaut, und heute functionirt daselbst in bester Eintracht mit dem katholischen Pfarrer und dem nahen Kapuzinerkloster ein protestantischer Geistlicher.
Die dicht am Bahnhof liegende „Centralreparaturwerkstätte“ ist ein eigentlicher Bienenkorb, in welchem die Hobelmaschinen, die Bohrmaschinen, die Sägemaschinen, von Dampfkraft getrieben, in ununterbrochener Thätigkeit surren und schwirren. Die Werkstätte steht unter der vortrefflichen Leitung des Directors Riggenbach, der für die Arbeitercolonie mehr Vater als Meister ist. Jedes Jahr erhält die ganze Mannschaft einen Tag Ferien, an welchem sie auf Kosten der Centralbahngesellschaft und unter Anführung des Directors eine Lustfahrt macht. Es ist eine wahre Freude, die kräftigen Gestalten der Schmiede und Holzarbeiter an diesem Feiertag zu beobachten, wie sie sauber herausgeputzt in anständiger Lust sich bewegen. – Für Tage der Noth sorgt eine Kranken- und Hülfscasse, welche zum Theil aus den Beiträgen der Arbeiter, zum [134] Theil aus den Zuschüssen der Gesellschaft gebildet ist. Dies nennen wir Socialismus der rechten Art. – Die Maschinenwerkstätte, schon jetzt in schönster Blüthe, scheint einer noch bedeutendern Zukunft entgegen zu gehen. Schon dehnt sie ihre Wirksamkeit über die Bedürfnisse der Centralbahn aus; sie construirt schon jetzt für andere Bahngesellschaften eiserne Brücken und lieferte kürzlich unter anderm für die Eidgenossenschaft 36 eiserne Lafetten nach der eigenen Erfindung des Directors Riggenbach, deren Modell an der Londoner Weltausstellung die Aufmerksamkeit und den Beifall der Sachkenner aus sich zog.
Der Eisenbahntourist, der von Basel herkommend nicht ohne einigen leisen Schauder den langen Tunnel passirt hat, wird über der prachtvollen Fernsicht auf das Aarthal und die Alpen, die sich unversehens wie durch Zauber vor ihm öffnet, die langen Reihen von Gebäuden mit den rothen Ziegel- und grauen Schieferdächern, die zu seinen Füßen liegen, kaum beachten. Aber kommt er vielleicht mit einem Abendzug daher und sieht die hundert Gasflammen tief unter sich und fragt, was das wohl sei, so wird er die Antwort erhalten: „Das ist der Bahnhof von Olten mit der Maschinenwerkstätte.“ Die freundlichen neuen Häuser ringsherum und das neue Kirchlein in der Nähe, das Alles ist Neu-Ultinum, der Eisenbahnknotenpunkt.