Textdaten
<<< >>>
Autor: Jean Nötzli
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ein Werk des Friedens
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 658–661
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[658]
Ein Werk des Friedens.
Von J. Nötzli.

Wer die Schweiz schon besucht hat, kennt den wegen seiner herrlichen, weitumfassenden Aussicht hochberühmten Rigi. Beinahe in der Mitte der Schweiz erhebt er sich bis zu 5500 Fuß als ein von allen Seiten freistehender Berg, auf seiner westlichen Seite bespült von dem so majestätisch hingebreiteten, dampfbootbefahrenen Vierwaldstättersee. Auf seinen üppigen Alpentriften weiden im Sommer an dreitausend Kühe und zahlreiche Heerden von Schafen und Ziegen, einhundertundfünfzig Sennhütten liegen zerstreut umher und zahlreiche Wege führen hinauf bis zum höchsten Gipfel, dem Kulm, der, wie weltbekannt, sowohl des Abends bei Sonnenuntergang, als in der Frühe vor und nach Sonnenaufgang, eine Aussicht bietet, die außerordentlich, ja einzig ist.

Unter diesen Wegen sind einzelne, deren Steilheit wirklich nicht bedeutend genannt werden kann, wenn auch bisweilen zwei bis drei Fuß hohe Felsenstufen erstiegen werden müssen. Trotzdem werden nicht wenige von den halbhunderttausend Fremden, welche alljährlich den Rigi zu besuchen kommen mit Freuden von einem Unternehmen hören, welches schon von Beginn dieses Herbstes an jedem Rigifahrer zu Gute kommen wird, für die Zukunft aber geradezu von größter Tragweite ist. Drei schweizerische Ingenieure sind es, der Oberst Adolph Näff in St. Gallen, N. Riggenbach in Olten und Olivier Zschokke in Aarau, deren Scharfsinn und Ausdauer man die Rigibahn verdankt und diese selbst, deren Möglichkeit so lange bezweifelt und geschmäht worden war, in Augenschein zu nehmen, machte ich mich an einem schönen Morgen von Vitznau aus, einem stillen freundlichen Dörfchen am rechten Ufer des Vierwaldstättersees, auf den Weg.

Einige Minuten die Straße hinauf und ich befand mich vor dem noch im Baue begriffenen Bahnhofe. Ein kleines, aber schmuck aussehendes Haus, im Genre der Schweizerhäuschen, doch ohne die zierliche Schnitzarbeit derselben. Neben dem Wartesaale das Zimmer des Billeteurs, der Bahnbeamten etc.; im Ganzen wenig Interessantes bietend. Gleich einige zwanzig Schritte davon steht der Schuppen für Locomotive und Waggons. Zwischen den beiden Gebäuden liegt die Drehscheibe, welche die Locomotive auf die hier einmündende Linie bringt.

Von da aus trat ich nun meinen Marsch an; von Schwelle zu Schwelle, wie auf einer Treppe, emporsteigend. Im Anfange geht es eine Strecke ziemlich gerade fort und ohne besondere Steigung, so daß ich alle Muße fand, der Schienenlegung meine volle Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Ueber die kaum zwei Fuß voneinander entfernten eichenen Schwellen gehen zu beiden Seiten mit diesen zusammengefügte Balken die ganze Bahnstrecke entlang, so daß die Schienen förmlich auf einem Roste ruhen. Es liegt auf der Hand, daß dieses System angewandt werden mußte, um jeder Verschiebung, namentlich dem Herunterrutschen, vorzubeugen, und gewiß ist der Zweck dadurch vollständig erreicht. Wäre je eine Weichung möglich gewesen, so müßte sie gewiß schon jetzt zu Tage getreten sein, denn die Locomotive hat während des Baues der Bahn so schwere Transporte (Baumaterial) hinauf befördert, wie sie vielleicht nie mehr vorkommen.

In Mitte der Schienen liegt die feste, massive Zahnstange, in welche das Zahnrad eingreifen muß. Wie die Zahnstange aus geschmiedetem Eisen, so sind deren einzelne eingenietete Zapfen der Solidität wegen aus Gußstahl. Diese Schiene ist das einzige wesentlich Abweichende von einer gewöhnlichen Bahnlinie, und es erhellt daraus sofort, daß wir es mit dem bekannten amerikanischen Bergbahnsystem zu thun haben, das sich nicht nur als praktisch anwendbar, sondern auch als sehr solid bewiesen hat, abgesehen davon, daß seine Herstellung nicht unverhältnißmäßig theuer zu stehen kommt.

Gleich oberhalb Vitznau schlägt sich die Bahn in scharfer Steigung, die sich bis zum Tunnel gleich bleibt, an den Berg, den sogenannten Vitznauer, stark hin und fordert hier den ersten Schnitt in die Nagelfluh des Bergkolosses. Die erste Schwierigkeit des Baues tritt zu Tage; oft reichten Böschungen nicht hin, und es mußten hohe Versicherungen angebracht werden, da das Terrain plötzlich ganz abfällt, einen steilen Abhang bildend oder eine tiefe Kluft öffnend. Die Felsensprengungen, die hier vorgenommen werden mußten, haben manchen schönen Kastanienbaum im Thal geknickt oder verstümmelt, und sie blicken traurig herauf auf das Werk der Menschenhände, hinauf an die himmelauftrebenden Felsen, in deren Schutz sie so manche Jahre friedlich grünten und blühten.

Je weiter hinauf ich steige, desto mehr fesselt die ganze Anlage der Bahn mein Interesse; ich habe noch nie eine Strecke gesehen, die so viel Abwechselung des Baues in so geringer Ausdehnung darbot. Hier mußte ein hoher Damm angelegt werden, dort ein Einschnitt in die Felsen, eine Versicherung, eine Böschung, eine Brücke, und daneben – welch’ eine prachtvolle Natur, welche bezaubernde Aussicht! Und je höher ich emporklimme, desto schöner, reicher, gewaltiger.

Die Bahn führt eine kurze Strecke durch einen Wald, und wie man wieder herauskommt, liegt das prächtigste Panorama vor uns ausgebreitet. Zu unseren Füßen das freundliche Vitznau, eine lange Strecke herrlicher Obstwald; darüber hinaus der Vierwaldstättersee; sein Spiegel kost mit der Sonne und wirft ihre Strahlen blitzend herauf. Ein Dampfschiff zieht einsam darüber hin und trägt seine Last hinauf gegen Gersau und Brunnen, hinab gegen Stansstad, Hergiswyl. Der Bürgenstock steigt düster heraus aus dem See und über ihn herein blicken die stolzen Häupter der Berneralpen, die Jungfrau, der Eiger, die Wetterhörner etc., weiter links der Uri-Rothstock, der Titlis und wie sie alle heißen, diese gewaltigen Gebilde der Vorzeit, die Träger des ewigen Schnees, glühend beim ersten Kusse der Sonne, purpurn bei ihrem scheidenden Strahle. Die Reihe schließend steht der groteske Pilatus, ernst, beinahe schaurig. Er wirft seinen Schatten tief in den See [659] und reckt seine Spitze hinauf in die Wolken. Der Pilatus ist der Freund dieser Luftgebilde. Der erste, der sich bei schlechtem Wetter in Nebel mummt, trägt er beim schönsten Wetter seinen Hut, wie eben jetzt. Wie manche schöne Sage knüpft sich an diesen stolzen, majestätischen Bergriesen; schon seinen Namen dankt er einer solchen. Der römische Landpfleger Pilatus, der Jesus dem Volke ausgeliefert, soll sich auf diesem Berge in einen See gestürzt haben aus Verzweiflung über seine Schwäche und noch jetzt muß er bei Donner und Blitz aus der Tiefe tauchen, ein Schreckenbild. – Von diesem Manne soll der Berg seinen Namen haben.

So blickt man hinaus in die herrliche Landschaft und kann nicht satt werden. Ich weiß nicht, wie lange ich gestanden habe, als mich plötzlich der Pfiff einer Locomotive emporschreckte.

Der Bahnzug kommt von oben herab; da ist aber keiner Gefahr auszuweichen; er läuft nicht schneller, als ein Pferd trabt, und dies ist seine gewöhnliche Geschwindigkeit. Er kommt immer näher und näher. Plötzlich, mit einem Ruck hält er an; ein Mann springt vom Wagen auf mich zu; es ist der Bauführer, mein Studienfreund. Er hatte mich erkannt, und da weiter keine Passagiere da waren, ließ er anhalten, und nun bot sich die beste Gelegenheit zur Besichtigung der Locomotive sowohl wie des Waggons.

Einen sonderbaren Eindruck macht die Locomotive mit ihrem aufrechtstehenden Kessel, der in dieser Weise angebracht werden mußte, um den Spiegel des Wassers überall in gleicher Höhe zu halten, was bei einem wagrecht stehenden Kessel nicht möglich wäre. Um dies noch besser zu erreichen, ist der Kessel so gebaut, daß er bei der Steigung der Linie senkrecht steht, auf ebenem Boden folglich schief rückwärts.

An die Stelle des Schwungrades treten mit einer Uebersetzung die beiden Kammräder, welche in die Zahnstange eingreifen. Die Furcht, daß bei Ausbrechen eines Zahnes ein Unglück entstehen könnte, ist völlig unbegründet, denn es treten beinahe zu gleicher Zeit deren drei in die Stange, so daß bei vorkommendem Falle das ganze Unglück höchstens in einem unbedeutenden Rucke bestehen könnte. Zu dem kommt als wesentlich hinzu die vortreffliche Bremsvorrichtung, mittelst welcher der Zug sofort angehalten werden kann. Es mag hier am Platze sein, alle anderen Maßnahmen für die Sicherheit des Fahrens anzuführen, um jedes Vorurtheil und mit ihm jede Furcht zu beseitigen.

Die angeführte Bremsvorrichtung, Hebelsystem, ist nicht nur bei der Locomotive, sondern auch bei jedem einzelnen Wagen angebracht, und da die Waggons nie zusammengekoppelt sind, kann also jeder einzelne Waggon leicht angehalten werden, was von besonderer Wichtigkeit beim Hinunterfahren ist. Beim Hinauffahren ist die Locomotive stets hinten, so daß die Wagen nicht gezogen, sondern geschoben werden, eine Anordnung, die von der großen Umsicht zeugt, mit der hier zu Werke gegangen wurde. Mein Freund erklärte mir, daß in der langen Zeit, in welcher die Bahn schon gebraucht worden, auch nicht der geringste Unfall vorgekommen sei, und der einzig denkbare wäre, daß ein Felsstück herabrollte oder sich ein kleinerer Stein in die Linie wälzte, der den Uebersetzungsrädern des Schwungrades Schaden zufügen könnte. Aber abgesehen davon, daß die Bahn während des Betriebes fleißig inspicirt wird, kann dergleichen bei einiger Aufmerksamkeit des Locomotivpersonals wirklich nicht vorkommen, da der Zug sich stets in der Gewalt des letztern befindet und rasch genug still gehalten werden kann, das Hinderniß zu beseitigen oder die Gefahr vorübergehen zu lassen.

Die Waggons, welche, um auf der Linie wagrecht mit ihren Sitzen zu stehen, über den Rädern eine keilförmige Unterlage haben, sind ebenfalls abweichend von denjenigen anderer Bahnen; es sind Omnibusse mit je einundachtzig Plätzen, fünfundvierzig im ersten und sechsunddreißig im zweiten Stocke. Die letzteren werden wahrscheinlich bei schönem Wetter und von keckeren Touristen benutzt werden, da sie ohne Verdeck und eben deswegen ein allerliebster Luginsland sind; das muß ein köstlicher Genuß sein, so hinauf oder hinunter zu fahren. Trotz der Einladung meines Freundes aber versagte ich mir denselben, da ich noch weiter die Bahnstrecke hinauf wandern wollte.

„Wir treffen uns wieder,“ rief er mir nach; der Zug rollte bergab und ich setzte meinen Stock ein bergauf.

Ich hatte wenig über fünfzig Schritte zurückgelegt, als die Bahn eine scharfe Biegung machte; links dunkle, bewaldete Abgründe, rechts groteske Gebirgswelt, vor mir der etwa hundertfünfzig Fuß lange Tunnel durch einen gewaltigen Nagelfluhfelsen. Wie man aus dem Tunnel heraustritt, schießt der Felsen beinahe senkrecht ab und fällt bis zu einer Tiefe von mindestens dreißig bis vierzig Meter. Oben steigt er allmählich himmelhoch hinauf, in glatten grauen Wänden, die schaurige Grubisfluh. Unten durch schießt schäumend ein Bach und wälzt sich brausend an dem Rande dieses gewaltigen Kessels hin, der eine Ueberbrückung erhalten hatte, wie sie von gleicher Schönheit kaum ein zweiter Viaduct aufweisen dürfte.

Auf zwei Gitterpfeilern schwingt sich die siebenundsiebenzig Meter lange Brücke über den Abgrund in einem kühnen Bogen auf das jenseitige Widerlager, um dort, rasch steigend, allmählich wieder aus der Schlangenwindung herauszukommen. Das diesseitige Widerlager ist der Felsen. Die Brücke sieht sich von Weitem etwas beängstigend an; namentlich wenn der Zug darüber geht, glaubt man jeden Augenblick, sie müsse unter der Last zusammenbrechen; aber so leicht sie auch scheint, so solid, so gut bewährt sie sich, und es ist kaum denkbar, daß der Winter von schädlichem Einflusse auf dieses Gitterwerk sein wird.

Die Aussicht von der Brücke ist überraschend schön; im Hintergrunde die himmelstürmenden Felsen, unter sich der tobende Bach, die finsteren Tannen, weiter hinab saftige Wiesen, schattige Obstbaumwälder, darüber hinaus der blitzende See, der majestätische Pilatus. Der majestätische Anblick ist um so überraschender, als der Gesichtskreis kurz vorher ein sehr beengter war.

Ich steige immer weiter auf dem Bahnkörper; oberhalb der Brücke nimmt die Steigung ab; bis zum Tunnel betrug sie nicht weniger als fünfundzwanzig Procent, jetzt ist dieselbe im Durchschnitt einundzwanzig bis zweiundzwanzig Procent. Mit der Abnahme der Steigung wird auch der Bau weniger schwierig, obschon noch hier und da eine Brücke über einer tiefen Kluft sich wölbt, oder der Linie eine Gallerie gesprengt werden mußte. Es ist das Gebiet der Alpen, welches nun beginnt, eine weiche Erdschicht tritt zu Tage und das Geröll und Gestein, von dem sich weiter unten die Hülle und Fülle bot, war hier gut zu verwenden.

Das Kaltbad ist erreicht; noch etwas darüber hinaus, bis ungefähr zur Höhe des sogenannten Staffels zieht sich die Linie fort und findet dort, wo alle Wege, die auf den noch einige hundert Fuß höheren Kulm führen, zusammentreffen, ihren Abschluß. Ein Stationsgebäude erhebt sich und der Passagier hat den ersten berühmten Aussichtspunkt des Rigi erreicht. Ich ließ mir eine Erfrischung geben, sah mich schnell um unter all’ den fremden Gesichtern, welche, die Augen im Berlepsch, die prächtige Aussicht bewunderten, und setzte dann meinen Fuß wieder rückwärts, gleichen Weges, den ich gekommen. Wie ungleich ruhiger läßt sich da die Landschaft genießen, wie wohl fühlt und hebt sich die Brust, wenn man so hineinwandert, entgegengeht all’ dem Herrlichen, das sich dem Auge darbietet! In kurzer Zeit war ich wieder bei der Brücke angelangt. Im Tunnel dampfte die Locomotive, die inzwischen wieder heraufgekeucht war; nun war es mir sehr lieb, eine Fahrt mitmachen und namentlich das so sehr gefürchtete Herabfahren wagen zu können. Ich stieg ein; die Locomotive setzte sich in Bewegung, der Waggon rollte nach; das ging so ruhig wie in einer Kalesche auf schöner Landstraße. Als ich ausstieg, brauchte ich nicht erst zu untersuchen, ob die Achseln noch da seien, eine Prüfung, die man bei unseren Eisenbahnen oft genug zu machen gezwungen ist. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Maschine fortbewegt, ist freilich keine rasende; ein recht guter Läufer wäre im Stande mit ihr Schritt zu halten, natürlich nur bergab. Dies erhellt schon daraus, daß sie, um die etwa siebzehntausend Fuß Länge der Bahn zu durchlaufen, eine Stunde Zeit verlangt, wie wenigstens für den Fahrplan vorgesehen ist. Regelmäßige Fahrten wird die Bahn während der Saison täglich höchstens drei haben, jedoch weitere nach Bedürfniß anordnen. Daß sie auf zahlreichen Zuspruch rechnen darf, ist wohl sicher, und sie hat es auch nöthig, denn die Kosten ihrer Herstellung erreichen die schöne Summe von 1,250,000 Francs.

Daß die Bahn dem Berge als solchem die Poesie raube, ist eine Behauptung, die jeden Haltes entbehrt; es wird weder das Eine noch das Andere, das bisher charakteristisch für den Rigi war, dadurch verdrängt werden; jedenfalls dürfte sie nur ein Mittel sein, ein noch geschäftigeres Durcheinander zu veranlassen. So werden die Schwarzseher bald verstummen müssen und man wird dem Unternehmen ein herzliches „Glück auf!“ zurufen.



[660]

Am Ausgangspunkt der Rigibahn bei Vitznau.
Nach der Natur aufgenommen von Töche in Zürich.

[661]

Die Brücke der Rigibahn.
Nach der Natur aufgenommen von Töche in Zürich.


  NODES
chat 2