Textdaten
<<< >>>
Autor: H. S.
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Eine Volksküche in London
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 223
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[223] Eine Volksküche in London. Unter die allerschmerzlichsten der Eindrücke, die der Fremde von einem Aufenthalt aus dem an Gegensätzen so reichen London mit nach Hause nimmt, zähle ich die, welche die sogenannten Sonnabendnachtmärkte auf mich machten. Es sind dies Märkte, die am späten Abend lediglich für die Arbeiter abgehalten werden, welche nach empfangenem Wochenlohne hier ihre armseligen Lebensbedürfnisse für die nächsten paar Tage, das heißt so weit ihre wenigen Schillinge reichen, zu decken suchen. Da war es mir denn immer die traurigste Scene, wenn ich sah, wie die ärmsten der hier verkehrenden armen Weiber um dürftige Stücke schlechten, halbverfaulten oder sonst verdorbenen Fleisches feilschten, während sie mit sehnsüchtigen Augen, mit Blicken, die tief in’s Herz hinein schnitten, die besseren, frischeren und reichlicheren Stücke betrachteten, welche für Leute mit volleren Börsen zum Kaufe auslagen. Jetzt ist Gott sei Dank diesen Jammerscenen einigermaßen ein Ende gemacht, seitdem von Australien aus Massen eingesalzenen und präservirten, aber völlig nahr- und schmackhaften Fleisches nach London kommen, das auch für den ärmsten Arbeiter kein unerreichbarer Leckerbissen ist. Hauptsächlich sind es zwei große Firmen, welche London mit diesen überseeischen Ochsen- und Schafziemern versorgen; die eine ist eine große Actiengesellschaft, die Australian Meat Company, die andere ein Privatunternehmen. Die letztere, die sich lediglich mit Schöpsenfleisch befaßt, hat nun den glücklichen Gedanken gehabt, mitten in einem von Armen bewohnten District am Ostende der Riesenstadt, in Norton Folgate, hinter einem umfänglichen Verkaufslocale zugleich eine Küche zu etabliren, wo die Kunden das in den Vorderräumen erhandelte Fleisch für eine geringfügige Extravergütung sich je nach ihren Wünschen zubereiten lassen und verspeisen können.

Die Umgebungen des Locals sind höchst trübseligen Anblicks, aber das Etablissement gleicht einer Oase in der Wüste, so einladend und schmuck stellt es sich dar. Und man muß sehen, wie das umwohnende Publicum herbeiströmt und die an den Schaufenstern auf das Appetitlichste ausgestellten Delicatessen bewundert: wie es die Kupferpence in seinen Taschen mustert und, wenn das Resultat der Revision günstig, die Schwelle des culinarischen Paradieses überschreitet, von den minder Glücklichen, welche sich nur an dem Anblick von außen laben können, beneidet und als Notabilitäten bestaunt! Das Gedränge um den Ladentisch, der eine passende Auswahl aller der gebotenen Genüsse in decorativer Anordnung enthält, ist immer lebensgefährlich; hier sucht sich das Publicum aus, was seinen Gelüsten und dem Stande seiner Casse entspricht, nimmt sich dann die auf einem Seitentische aufgestapelten Teller und Schüsseln und verfügt sich damit in das eigentliche Speisegemach, einen kolossalen Saal, den lange Reihen von Tafeln und Bänken von einer Ecke bis zur andern ausfüllen. Die Fluthzeit des Etablissements währt von zwölf bis zwei Uhr Nachmittags; während derselben pflegt jedes Räumchen des gewaltigen Locales besetzt zu sein, und zwar sieht man darin neben den Vertretern der ärmsten Classe der Londoner Bevölkerung, neben dem offenbaren Bettler in zerlumpter Kleidung (der eigentliche Strolch und Dieb vermeidet dergleichen auf Anstand und Ordnung haltende Localitäten) Leute von ganz respectablem Aeußern, meist Schreiber und Commis, welche, bei einem geringfügigen Jahresgehalte von fünfzig bis hundert Pfund Sterling, die Gelegenheit, um billigen Preis ein sättigendes Mittagsmahl zu erhalten, mit Freuden ergreifen. Der gewöhnliche Betrag eines jeden der verabreichten Gerichte ist ein Penny; wer sich den Luxus von zwei Pence gestatten kann, wofür er zu seiner Schüssel noch gedämpfte Kartoffeln erhält, der gilt nach den Begriffen von Norton Folgate schon für einen Lucullus.

Wie schon erwähnt, bietet das Etablissement ausschließlich Schöpsenfleisch feil, bereitet dies jedoch in einer Menge verschiedener Gestalten zu. Das Fleisch ist vor dem Transport leicht eingepökelt worden und hat durch die lange Reise nichts von seiner Frische und seinem Wohlgeschmack eingebüßt. Für etwas bemitteltere Kunden importirt man auch präservirtes Fleisch in hermetisch verschlossenen Zinnbüchsen; dies wird vorher bereits gekocht und kommt das Pfund ungefähr auf sechs Pence oder fünf Silbergroschen zu stehen. Im Durchschnitt zählt das Local, außer der großen Menge von Kunden, die sich das erkaufte Fleisch mit nach Hause nehmen, Tag aus Tag ein mehr als tausend Tischgäste – während der verflossenen Weihnachtszeit stieg die Ziffer auf nahezu das Doppelte – so daß die Firma, obwohl bei Weitem die meisten dieser Gäste nur je einen Penny anlegen können, dennoch prosperirt. So gereicht, ein treffendes Beispiel von der nationalökonomischen Bedeutung des Welthandels, der Ueberfluß eines viele Tausende von Meilen entfernten Erdtheils der europäischen Armuth zum Segen.

H. S.
  NODES