Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält. | |
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In den Bildsäulen der Alten findet man diesen ästhetischen Grundsatz anschaulich gemacht, aber es ist schwer, den Eindruck, den der sinnlich lebendige Anblick macht, unter Begriffe zu bringen, und durch Worte anzugeben. Die Gruppe des Laokoon und seiner Kinder ist ohngefähr ein Maaß für das, was die bildende Kunst der Alten im Pathetischen zu leisten vermochte. „Laokoon, sagt uns Winkelmann in seiner Geschichte der Kunst (Seite 699 der Wiener Quartausgabe), ist eine Natur im höchsten Schmerze, nach dem Bilde eines Mannes gemacht, der die bewußte Stärke
im Gebiet der Menschheit, so ekelt sie uns an und empört. Im Gebiet der Thierheit muß der Affekt jederzeit unaufgelößt bleiben, sonst fehlt das Pathetische; erst im Gebiet der Menschheit darf sich die Auflösung finden. Eine leidende Person, klagend und weinend vorgestellt, wird daher nur schwach rühren, denn Klagen und Thränen lösen den Schmerz schon im Gebiet der Thierheit auf. Weit stärker ergreift uns der verbissene stumme Schmerz, wo wir bey der Natur keine Hülfe finden, sondern zu etwas, das über alle Natur hinausliegt, unsre Zuflucht nehmen müssen; und eben in dieser Hinweisung auf das Uebersinnliche liegt das Pathos und die tragische Kraft.
Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1793, Seite 385. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band3_385.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)