Wenn der Humanismus nun aber fähig ist von hier aus seinen Siegeszug in die abendländische Kulturwelt überhaupt zu unternehmen, so liegt das an zwei Momenten, die wir ebenfalls schon bei Petrarca finden. Das eine ist der Wirklichkeitssinn Petrarcas. Derselbe Sinn, der ihn hindert, Laura zu einem Symbol zu machen, der ihn in Vaucluse tausend entzückende Kleinigkeiten der Natur, auf seinen Reisen Menschen und Dinge in ihrer Eigenart sehen läßt, gibt auch seinem Bild des Altertums eine früher unbekannte Wahrheit und Bestimmtheit. Die Menschen des Altertums, mit denen er wie mit seinesgleichen lebt, sind doch zugleich in ihrer eigenen Zeit gesehen. Die „Realien“ des Altertums sind aus dem Wust von Fabeleien befreit, mit denen sie die Mirabilia, die Physiologi, die Bestiarii des Mittelalters umgeben hatten[1]. Die seelische Distanz, die Petrarca als Knabe zwischen sich und dem Altertum empfunden hatte, wird geschichtlicher Abstand. Mit Petrarca beginnt die kritische und die geschichtliche Betrachtung des Altertums, man könnte sagen, das geschichtliche Denken überhaupt. – Das Zweite, was hier in Betracht kommt, sind die Ablehnungen, mit denen Petrarca seinen errungenen Standpunkt sichert. Dahin gehört sein Kampf gegen die Scholastik, gegen die Jurisprudenz, gegen die Medizin, gegen den Averroismus. In Scholastik und Jurisprudenz bekämpft er die aristotelische Dialektik, die seine Gemütsreligion stört, in dem Averroismus die aufklärerische Betrachtung der Welt, die seiner mystischen entgegengesetzt und zugleich ebenso echt heidnisch ist, wie seine Antike in Wahrheit christlich, in der Medizin den Aberglauben, der sich vermißt, Dinge zu wissen, die man nicht wissen kann und den Menschen in einem falschen Verhältnis zur Natur sieht.
Das alles ist nicht mehr als der Dilettantismus des humanistischen Romantikers. Aber es ist der Weg zu einem neuen Verhältnis von Leben und Bildung überhaupt. –
Die erste Kultur, die der so entstandene Humanismus formend und normierend ergreift, ist die italienische Renaissance. Renaissance soll hier nicht eine Kunstrichtung heißen, es soll auch
- ↑ Um das zu sehen, muß man einmal sein Cicerobild mit dem Fra Guidotto von Bologna oder auch mit dem seines Freundes Wilhelm von Pastrengo in dessen Werk 'De originibus rerum' vergleichen
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 425. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_007.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)