die er doch selbst abzuwerfen nicht imstande ist, seine ganze esoterische Religion. Sein Interesse am Reuchlinschen Streit[1] beginnt erst, als er hier eine neue „Sekte“ zu erkennen glaubt, die sich von dem Zeitgemäßen und Zeitgewohnten ebenso absondert wie er selbst. Er hat sich schließlich eine ganz eigene Art religiöser Diesseitigkeit zurecht gemacht. „Longe melius est“, schreibt er einmal, „ab ignorantia ad scientiam consurgere quam sperare futura. Si animum tuum noveris, in celo es“. An Mutian sehen wir vielleicht am deutlichsten, was in Deutschland ästhetische Religiosität sein konnte, und wohl auch dies, bis zu welchem Grade der Vereinheitlichung von Bewußtsein und Lebensführung es eine aufklärerische Religiosität in Deutschland vor Erasmus bringen konnte.
Es wird aber auch so vielleicht deutlicher geworden sein, was es bedeutete, daß die Frage einer christlichen Philosophie in humanistischer Formung und Normierung bei Erasmus nicht mehr ein individualpsychologisches Problem ist, sondern ein sozialpsychologisches, daß es sich um einen bewußten Versuch handelt, eine ganze Welt, eben die der res publica christiana, in eine neue Form zu bringen. Man hat diesen Versuch wohl eine „Renaissance des Christentums“ genannt, dazu aber bemerkt, daß Erasmus selbst niemals so sage, sondern von einer restitutio christianismi spreche. Ebensooft aber spricht er von den renascentes litterae. Beide Ausdrücke bezeichnen die Sache. Die „Renaissance der Wissenschaften“ ist die Tatsache, von der Erasmus ausgeht, auf der er aufbaut. Sie ist da, als er auftritt. Er wird ihr Führer, indem er die verschiedenen Bewegungen zusammenfaßt, seine Rivalen, wie etwa den Franzosen Budaeus mit Güte oder Überlegenheit zu sich hinüberzwingt. Das Christentum aber ist erst wieder herzustellen. Diese Wiederherstellung ist die Arbeit seines Lebens.
Wenn sie ihm so schnell und in so erstaunlichem Maße zu gelingen scheint, so liegt der Grund zunächst darin, daß diese neue christliche Philosophie die verschiedensten Ansprüche befriedigt. Sie entspricht dem mystischen Drang der Zeit, der eine Gefühlsreligion ohne Zeremonien und Umschweife sucht. Sie zeigt den
- ↑ Das urkundliche Material für den Streit bei Boecking, Opera Hutteni. Supplementum Bd. II (Leipzig 1869/70). Neueste Darstellung in der kritischen Ausgabe der Epistolae obscurorum virorum von Aloys Boemer (Heidelberg, Weissbach 1924). Eine kritische Überprüfung der einzelnen Phasen des Streits wäre recht notwendig.
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 457. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_039.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)