verschiedene: Die Gartenlaube (1856) | |
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Von J. C. Lobe.
Dritter Brief. Poesie. Kunst. Lied.
Sie wissen, daß die alten Griechen unter Musik alle schönen Künste verstanden, vorzugsweise aber Poesie und Tonkunst. Die letzteren zwei Künste erscheinen auch bei den Neueren oft verbunden, in der ganzen Gesangsmusik nämlich. Es ist daher wegen des leichteren Verständnissen meiner künftigen musikalischen Briefe nöthig, hier erst einen über Poesie und Kunst überhaupt einzuschieben.
Was ist Poesie?
Diese Frage hat einen Anschein von großer Lächerlichkeit. Welcher nur einigermaßen gebildete Mensch könnte zählen, wieviele Male in seinem Leben er dieses Wort aussprechen gehört und selbst ausgesprochen hat! Hieraus sollte man schließen dürfen, daß Jedermann wüßte, was Poesie sei!
Es kommt indessen nicht selten vor, daß von zwei Gebildeten der eine dasselbe Werk für „poetisch,“ der andere für „nicht poetisch“ erklärt. Aus solchen entgegengesetzten Urtheilen scheint also wieder hervorzugehen, daß der Begriff „Poesie“ noch zweifelhaft ist.
Wendet man sich um Belehrung darüber an diejenigen, von welchen sie am sichersten zu erwarten sein sollte, an die Kunstphilosophen, so lacht man nicht über die Frage, sondern oft über die Antworten.
Ich will Ihnen nur zwei Pröbchen geben.
Einer sagt: „Poesie ist die Indifferenz des sub- und objektiven Pols!“ Das nennen die Philosophen eine gelehrte Definition. Man versteht sie zwar nicht, aber eben darum ist sie philosophisch.
Einem Anderen zufolge ist Poesie: „die Kunst, selige Inseln voll Schönheit, Harmonie und Zweckmäßigkeit, voll schöner, großer und begeisternder Ideen, voll zarter, tiefer und heiliger Gefühle aus dem Ocean der Menschenbrust durch den Zauberstab den metrisch gebundenen und doch freien Wortes mit Schöpferkraft an’s Sonnenlicht emporzuheben, und bei ihrem Anblick eine ganze Welt in süßes, ungewohntes Staunen zu versetzen.“
Nehmen Sie aus dieser Definition die Worte „heilige Gefühle,“ halten Sie dieselben an das Lied von Goethe: „Stirbt der Fuchs, so gilt der Balg,“ und sagen Sie mir, ob darin „heilige Gefühle“ geschildert sind.
Mit Erklärungen solchen Genres könnte ich mehrere Spalten der Gartenlaube anfüllen. Sie haben aber an den gegebenen hoffentlich genug, um klar zu sehen, wie dunkel die Sache noch ist.
Wir wollen sie als Ungelehrte untersuchen.
Das Wort „Poesie“ ist griechischen Ursprungs und heißt zu deutsch: Machen.
Mit diesem Ausdrucke ist nichts anzufangen. Was wird nicht alles in der Welt gemacht!
Nehmen wir anstatt des griechischen Worts „Poesie,“ das deutsche Wort „Dichtung,“ so präsentirt sich uns ein deutlicherer Begriff. Wir wissen alsdann, daß Dinge gemeint sind, die vom Dichter rein erfunden oder nach vorhandenen Erscheinungen geschildert und uns vermittelst der Rede mitgetheilt werden. Allein nicht jede Rede gehört zur Dichtkunst. Letztere wählt vorzugsweise bildliche Ausdrücke, Gleichnisse u. s. w., weil diese anschaulichere Vorstellungen hervorrufen, die Einbildungskraft in ein lebhafteres Spiel versetzen, als abstrakte (abgezogene) Begriffe thun. Die dichterische Rede ist ferner kunstreicher geordnet als die gewöhnliche (prosaische), damit sie wohllautender in’s Gehör falle. Sie schreitet taktartig, rhythmisch, in regelmäßigem Wechsel langer und kurzer Silben, in abgemessenen Versen und Strophen (gebundener Rede) dahin. Zwar giebt es auch eine dichterische oder poetische Prosa, diese wird aber in neuerer Zeit kaum noch angewendet, und wohl mit Recht. Denn was in der gebundenen Rede einen besonderen Reiz hat, die blühende, bilderreiche Sprache, erscheint in Prosa meistentheils als Schwulst und Bombast.
Das Reich der Dichtung ist unermeßlich. Denn nicht allein was geschehen ist, auch was niemals geschehen kann, wird ihr vorzubringen erlaubt. Die Werke der Dichtkunst werden gewöhnlich in vier verschiedene Hauptklassen eingetheilt: in dramatische, epische, didaktische und lyrische.
Das dramatische Werk stellt Thaten, Charaktere, Triebfedern, Gefühle der Menschen in einer als gegenwärtig geschehenden Handlung vor. Das epische schildert dieselben Dinge in erzählender Form. Didaktische Gedichte tragen eine Lehre vor. Lyrische endlich schildern das Gefühlsleben, die Leiden und Freuden des Herzens. Alles, was dem Gefühlsleben angehört, ist des musikalischen Ausdrucks fähig. Daher das Wort „Lyrisch,“ welchen von „Lyra“ abstammt, einem uralten Instrumente, womit die Griechen ihre Gesänge begleiteten.
Zur lyrischen Dichtung nun gehört das Lied. Sein Inhalt ist ein Einzelgefühl. Es unterscheidet sich dadurch z. B. von der Arie, welche mehrere, verschiedene, wechselnde Gemüthsstimmungen vorüberführt. Es behandelt keine großen Leidenschaften, sondern meist mäßige Gefühle. Vers- und Strophenarten sind einfach, nicht künstlich verschlungen; die Verse endigen in der Regel mit Reimen.
Warum haben Gedichte diese Form? Die Natur weiß davon nichts. Der Mensch spricht seine Gedanken und Gefühle in der Wirklichkeit nicht in Versen und Reimen aus.
Diese Frage führt uns auf einen Punkt, der seit Jahrhunderten bis in unsere Zeit herein noch gäng und gäbe, nichts destoweniger aber falsch ist.
Fragen Sie: Was bedeutet das Wort „Aesthetik?“ so erhalten Sie von überall her die Antwort: „Die Lehre vom Schönen“. Fragen Sie: „Was ist Kunst?“ so heißt es: „Die Darstellung des Schönen.“ Dennoch ist diese Antwort nur zur Hälfte eine Wahrheit, zur andern Hälfte eine Lüge. Sie ist eine Lüge in Bezug auf den Stoff der Darstellung; sie ist eine Wahrheit in Bezug auf die Darstellung des Stoffs. Stoff der Darstellung, und Darstellung des Stoffs sind zwei verschiedene Dinge. Denken Sie sich eine Madonna, das ist ein schöner Gegenstand; denken Sie sich eine alte Hexe, das ist ein häßlicher Gegenstand. Agathe und Aennchen im Freischütz sind liebenswürdige Wesen, Kaspar und Samuel abscheuliche. Die Liebe Maxens zu Agathe ist ein angenehmes Gefühl, Kaspar’s böse Gedanken gegen Max bekunden schlechte Gefühle.
Nun finden Sie aber nicht blos Vergnügen beim Anblick einer gemalten Madonna, sondern auch bei dem Anblick einer gemalten alten Hexe; nicht blos wenn Sie den Ausdruck von Maxens Liebe, sondern auch Kaspar’s Racheausbruch vernehmen.
Was bewirkt denn dieses Vergnügen bei künstlerischer Darstellung von Gegenständen, welche in der Wirklichkeit unangenehm oder gehässig erscheinen? Nichts anderes kann es sein, als die erkannte Wahrheit. Wenn die Madonna, die schön sein soll, häßlich, die Hexe, welche alt und häßlich sein soll, schön vorgestellt ist, so finden wir beide Bilder unwahr. Wenn Kaspar, nachdem er Max in die verderbliche Wolfsschlucht gelockt, sich plötzlich anders besänne und sagte: „Guter Max, mache geschwind, daß Du wieder fortkommst, denn wenn Du mir Kugeln gießen hilfst, bist Du und ist Agathe für Dich verloren,“ so würde diese plötzliche Sinnesänderung, obwohl sie an sich eine schöne Empfindung ist, uns doch mißfallen, weil sie nach der Anlage dieses Charakters ganz und gar nicht wahr sein kann.
Nun fällt Einem freilich die Frage ein: wo ist die Wahrheit im Faust, wenn der Pudel hinter dem Ofen riesig anschwillt und Mephisto daraus hervortritt? Oder wenn er mit Faust auf dem Mantel durch das Fenster hinaus fliegt? Ist der Teufel selbst eine Wahrheit? Und welche Wahrheiten liegen in der ganzen Musik, in einer Symphonie zum Beispiel?
Was die letztere Kunst betrifft, so werden wir später davon zu reden haben. Für jetzt wollen wir bei der Wahrheit in der Dichtkunst stehen bleiben und sagen: diese ist nicht immer eine der Wirklichkeit entnommene, sondern zuweilen nur eine blos angenommene oder vorausgesetzte. Daß es einen Teufel gebe, der mit höheren Kräften als Menschen sie besitzen begabt sei, nimmt der Dichter an, und wir lassen’s uns gefallen. Innerhalb
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_218.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)