verschiedene: Die Gartenlaube (1856) | |
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Selbst der Tod hat sein Leben, seine Unsterblichkeit. Wir denken uns nichts Todteres, als den in ewiges Eis gebundenen Nordpol, die arktischen Regionen. Allerdings lebt er nicht, wie die Tropen in luxuriöser Blätter-, Blüthen- und Thierentwickelung; aber wie auch die brennendste, keimloseste Wüste Leben, zauberhaftes Wallen und Walten von Naturgesetzen durchzuckt, wie sie Humboldt sah und schilderte, arbeitet und baut und bildet auch der trostloseste Norden in unaufhörlicher Gestaltung und Zerstörung die erhabensten, glänzendsten Paläste und setzt selbst dem ewigen Eise seinen Floh in den Pelz. Die Heimath des Winters, wo er sich von seinen jährlichen Ausflügen nach dem Süden in grimmer Majestät unter ewigen Eispalästen erholt, ist großartiger, erhabener, klassischer in ihren Lebensgebilden als irgend eine andere Gegend der Erde. Der Winter ist ein Magiker, wie kein anderer. Während der Nächte um Weihnachten bemalt er oft alle Fenster eines ganzen Landes mit träumerischen Landschaften unbekannter Gegenden mit zackigen Bäumen und feenhaften Blumen. Die Höhen der Alpen krönt er alle Jahre frisch mit wundervollen Gletschern, wie mit Diademen reinen Silbers, und sonstigen Häuptern von Gebirgszügen hält er die weiße Königsmütze frisch und weiß, ohne sie zu waschen. Ueber Feldern und Wiesen und über jeden Baumzacken reist oft seine Arbeit in einer Nacht, das prächtigste Gewand von krystallenen Edelsteinen reinsten Wassers gewoben. Und wenn’s der Erdhaut bei uns gar zu kalt wird, hüllt er sie
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_225.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)