verschiedene: Die Gartenlaube (1856) | |
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Geht man der Geschichte etwas naher auf den Leib, so bemerkt man zu nicht geringer Ueberraschung, daß wir die schlagendsten Kommentare der Weltgeschichte an den Beinen an uns herumtragen, denn die großen Perioden der Weltgeschichte haben ihren sicht- und fühlbaren Ausdruck in der Fußbekleidung gefunden. Man muß hierbei unter Weltgeschichte nicht den Wechsel, der Dynastien, Reiche, Schlachten und dergleichen Zufälligkeiten verstehen, sondern die Umwandelung der Gesinnung, Denk- und Lebensweise der Völker, die sich ihr Recht trotz Aechtungen, Bannflüchen, Scheiterhaufen und Bastillen verschafft. Um dies an einem Beispiele nachzuweisen, verfolgen wir die Geschichte der Fußbekleidung. Siehe da, die drei großen Perioden des weltgeschichtlichen Lebens finden wir in Schuhen und Stiefeln wieder; denn die Völker des Alterthums gingen auf Sandalen, das Mittelalter hat Schuhe, seit dem dreißigjährigen Kriege tauchen Versuche im Stiefeltragen auf, und seit der französischen Revolution trägt man Lederstiefeln.
Soll dies Zufall sein? Gewiß nicht. Burmeister hat in seinem geistreichen Aufsatze „über den menschlichen Fuß“ nachgewiesen, wie der Fuß den Menschen im Gegensatz zum Thiere charakterisirt, wie er aber auch den einzelnen Menschen individualisirt, und der Charakter des Einzelnen angedeutet wird in der Art, wie er für sein Schuhwerk sorgt. Es muß in der Schuhmacherei ein welthistorischer Zug liegen, denn der Schuster Simon in Athen war ein intimer Freund des Sokrates und Perikles, welcher letztere ihn gar zu seinem Privat-Geheimerath zu machen strebte, doch Simon wollte „seine Freiheit nicht verkaufen.“ Ein andrer gelehrter Schuster wurde Bürgermeister zu Rom und der erste Rechtsgelehrte seiner Zeit, der Schuster L. Balduin wurde die Zierde und der Mitgründer der Universität Florenz; unser poetischer Landsmann Hans Sachs ist der erfindungsreichste aller deutschen Dichter und war Streitgenosse Luther’s; Jac. Böhme aus Görlitz gehört zu den tiefsten Denkern unseres Volkes; G. Fox gründete die Religionssekte der Quäker oder Kinder des Lichts, die auch in Danzig durch Schuster Eingang fand, und Ronge hatte die Stützen seiner Gemeinden vorzugsweise unter den Schustern.
Kein anderes Gewerk kann sich solcher welthistorischen Mitglieder rühmen, keines berechtigt uns so sehr zu dem Glauben, daß wir auf welthistorischem Boden stehen, wenn wir Schuhe oder Stiefeln angezogen haben, daß in der veränderten Fußbekleidung wir Errungenschaften an uns tragen, die man nicht wegrevidiren wird. Es ist kein Zufall, daß die Völker des heidnischen Alterthums in Sandalen, ohne Rock und Hosen umherliefen, wogegen die germanischen Völker mit Hosen und Schuhen auf der Schaubühne der Weltgeschichte erscheinen, die Revolution aber lange Hosen, Stiefeln und Rock zur gleichmachenden Kleidung macht. Doch wir wollen uns nicht in Redensarten ergehen, sondern die Sache selbst reden lassen, damit sich Jedermann überzeuge, wie viel Humor in der Situation steckt, wenn Jemand gegen die Revolution eifert, und ihre Errungenschaften und Abzeichen doch am Leibe mit sich herumträgt.
Die Völker des Alterthums standen noch auf der Stufe der Natürlichkeit und Sinnlichkeit, daher ihre sinnliche Naturreligion, ihre gesellschaftliche Ordnung nach Familien und Stämmen. In Folge hiervon nahmen sie am Nackten keinen Anstoß, sondern trugen Arme und Beine mehr oder minder unverdeckt vom Mantel oder hemdartigem Kleid. Sie wollten den Fuß nicht verhüllen, sondern ihn nur schützen und schmücken. Königinnen und Fürstinnen gingen bis auf die Fußsohle barfuß, nicht minder Herzöge, Marschälle, Großhändler, Bürgermeister, Tagelöhner und Kuhhirten. Erforderte es die Jahreszeit, so waren Lappen an der Sandale angebracht, um den Fuß zu umwickeln, aber einen eigentlichen Schuh trug man nicht. Reich und Arm unterschied sich blos durch das Material der Sohle, die aus Binsen, Bast, Holz, Leinewand oder Leder verfertigt wurde, und durch den Schmuck der farbigen Bänder, mit denen man die Sohle am Fuße befestigte. Diese Bänder waren ähnlich wie bei uns die Schlittschuhriemen an der Sohle angebracht; das Hauptband wurde zwischen den beiden ersten Zehen hindurchgezogen, ging durch die Oehre der andern Bandstücken und schnürte sie fest, oder man wand die verschiedenen Bänder am Knöchel bis zur Wade hinauf. Ein Schmuck war es, diese Bänder mit Geschmack um den Fuß zu winden, kostbare Stoffe und prächtige Farben dazu zu wählen oder sie gar mit Perlen und Edelsteinen zu sticken. Solchen Luxus und solche Unterschiede dulden die demokratischen Stiefeln nicht; denn ein blanker Stiefel ist so viel als ein anderer, und Wichse so billig, daß der Proletarier mit dem Millionär hierin konkurirren kann. Dies ist das Egalisirungsprincip der Stiefeln, die nur einen Unterschied netterer Formen und echterer Waare zulassen, was aber wenig in die Augen fällt, da der Verwalter einen eben so netten Stiefel tragen kann, als der Herr Graf; aber mit Perlen und Gold könnte er das Oberleder nicht sticken lassen.
Sehen wir uns die alte Geschichte im Sonntagsstaate an, so zeigt sie uns mit stolzem Behagen die Pyramiden und riesigen Königspaläste Egyptens, die meilengroßen Palaststädte Babylon und Ninive, die säulenreichen Tempel und Statuen Griechenlands, die luxuriösen Landhäuser und Kaiserpaläste Roms; aber überraschen wir sie im Negligée, so sieht sie ziemlich ärmlich aus, denn sie hat nur Sohlen und ein wollenes oder baumwollenes Hemd den Völkern gebracht. Nur auf Reisen oder Feldzügen trug man eine Kopfbedeckung. Wie anders erscheint uns ein Achill, ein Alexander, eine Themistokles ohne Hut, Hosen, Rock und Stiefeln! Welche unserer Damen würde es wagen, diese Ideale anzusehn! Der viel bewunderte Staatsmann Perikles ging oft sogar barfuß auf dem Markte spazieren; Demosthenes wie Cicero deklamirten ihre Reden mit nackten Armen, sprangen mit nackten Beinen auf der Rednerbühne hin und her und aßen statt mit Messer und Gabeln mit der Hand aus dem Bratenteller, daß ihnen das Fett die Finger entlang lief. Welcher Minister, welcher Parlamentsredner wagt es, hierin sein Vorbild nachzuahmen! So haben sich die Zeiten verändert! Nicht einmal die Philologen, die das Alterthum so unübertrefflich klassisch, die nur im Alterthum Geschmack und Schönheitssinn finden, wollen in bloßem Kopfe und barfuß gehen, wie Plato und Sokrates, Herodot und Sophokles, Livius und Cornelius Nepos es thaten. Ja sie sind so sehr von ihrem Princip, am Alterthum Alles zu bewundern, abgefallen, daß sie den Anstand verletzt glauben, wenn bei ihren Schülern etwa durch eine Spalte in den Hosen oder Stiefeln ein Stück Antike, ein Viertelzoll Mensch oder Humanität durchschaut. Freilich mochte auch kein Weiser des Alterthums ahnen, daß das Hosenstraffziehen ein vielvermögendes Erziehungsmittel und das Hosenankleben eine amtliche Bierprobe werden könnten. Bekanntlich wurde im gewissenhaften Nachmittelalter von Rechtswegen das Bier auf die Art erprobt, daß mit ihm eine Bank begossen wurde, auf welche sich die Commission der Rathsherren setzte. Klebten die Hosen an, so war das Bier gut; doch mag das Kleben- und Sitzenbleiben wohl noch einen andern Grund gehabt haben, da es Vielen noch in unseren Zeiten da passirt, wo es schmeckt.
Wir wollen indeß nicht ungerecht gegen das ungestiefelte Alterthum sein, denn es wußte mit seinen Sohlen doch viel Koketterie zu treiben, wußte sie zum Abzeichen der menschlichen Lebensordnung zu machen. Wir haben Sonntags- und Alltagskleider, der Hebräer hatte Sonntags- und Alltagsschuhsohlen; der Modenarr heftete Schellen an dieselben, um sich bemerklich zu machen, der zärtliche Liebhaber heftete das Portrait seiner Angebeteten in Metall gravirt unter die Sohle, um die Erde mit dem Abbilde der Dame feines Herzens zu bedecken, Diener mußten der Herrschaft oder dem vornehmen Gaste die Schuhriemen auflösen, ein Schuh ward als Unterpfand bei Kaufkontrakten abgegeben, gewissermaßen als Stempelbogen, bei Trauer und an heiligen Orten legte man die Sohlen ab und ging barfuß, wie David, als er vor Absolon floh, und wen man für ehrlos erklärte von Rechtswegen, dem verbot man, Sandalen zu tragen. Wer Jemandem die Sohlen nachtrug, stellte sich unter dessen Botmäßigkeit. Im bürgerlichen, im Rechts- und Kirchenleben spielte die Schuhsohle
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 573. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_573.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)