Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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No. 3. | 1870. |
Die Sonne war nach langem Regen wieder aufgegangen und streute mit vollen Händen Silber und Gold über den Züricher See aus. Die tanzenden Wellen spielten damit, wie ein neckisches übermüthiges Mädchen mit seinem Geschmeide tändelt. Die feuchte Erde sog begierig die warmen Strahlen ein, die nassen Büsche und Gräser glitzerten und von den Bäumen sprühte der Thau. Um die himmelanstrebenden Gipfel der Alpen schwebten zerrissene Wolkenschleier. Ein weißes Haupt um’s andere kam heraus in duftiger Ferne. Alles war Licht und Glanz, kein Schatten zog an dem Gestirn des Tages vorüber, und dennoch war es nicht heiß, sondern kühl und wonnig auf der frischgewaschenen Erde. Die Blumen und Blätter, von denen der Regen jedes Stäubchen abgespült, athmeten stärkere Düfte aus; der feuchte Hauch, der durch die ganze Atmosphäre zog, schien den Brand der lichten Strahlen zu löschen. Wie Quecksilberperlen zitterten unzählige funkelnde Tropfen in dem weichen Rasen, der vom See zu den freundlichen Villen führte, die nachbarlich nebeneinander am Ufer lagen, von blühenden Kastanien umrauscht.
„Ah,“ sagte eine Kinderstimme mit tiefem Athemzuge, „das thut gut!“ Ein Knabe von etwa dreizehn Jahren trat unter die Thür der einen Villa und sog begierig die frische Morgenluft ein, die ihm so wohl that. Es war ein armes krankes Kind inmitten dieses Reichthums. Er trug einen breiten grünseidenen Augenschirm, unter dem er schüchtern hinausblinzelte in die schimmernde Pracht, und er konnte selbst unter seinem Schutze den glänzenden Anblick nicht ertragen, denn er bog geblendet den Kopf zur Seite und leistete stummen Verzicht auf das Anschauen von Gottes schöner Welt, – er hätte das schon längst gewöhnen müssen. Die rothen Augen zu Boden geheftet, schlich sich der Knabe unbeholfen in seinem langen wattirten Morgenrocke die Stufen vor dem Hause herab; der eine Fuß stampfte beim Gehen klirrend auf die Steine, er war in eine eiserne Maschine geschnallt, wie sie Kinder tragen müssen, die Anlage zur englischen Krankheit haben. So hatte er sich langsam heruntergeschleppt und setzte sich nun auf die unterste Stufe. Gewöhnt, nur immer zu Boden zu blicken, hatte er sich mit der Mutter Erde besonders vertraut gemacht und sah da, was vielleicht kein anderes Kind sieht. Das Leben des elenden Gewürms, das darauf umherkriecht, war ihm gar wichtig geworden; und sein Fuß zertrat gewiß nie ein Thierchen, über das Andere achtlos hinwegschritten. Er hatte gelernt zu beobachten, er hatte dadurch Sinn für das Kleinste und Unscheinbarste bekommen, er verstand früh eine Bedeutung darin.
So saß er, schaute seelenvergnügt der winzigen Welt zu, die sich vor ihm herumtummelte, und betrachtete grübelnd die günstigen und ungünstigen Veränderungen, die der Regen in derselben hervorgebracht. Unzählige neue Wahrnehmungen beschäftigten ihn. Wo hatten wohl die schönen Schmetterlinge gesteckt während des schlechten Wetters, die nun von Blume zu Blume flatterten, aber immer wieder aufflogen, wenn sie sich setzen wollten, weil die Kelche noch naß waren vom Regen und ihnen statt Süßigkeit Thränen boten? Das waren doch rechte Schelme, die Schmetterlinge! Die Blumen, die nicht von der Stelle konnten, hatten Regen und Sturm über sich ergehen lassen und waren nur noch duftiger und schöner danach geworden; die Schmetterlinge aber hatten sich im Trockenen geborgen und jetzt mochten sie nicht einmal ihren Freundinnen die letzten Spuren des Unwetters wegküssen. – Ein farbenschillerndes Pfauenauge setzte sich dicht vor dem Knaben auf die Erde, als habe es sich einen Flügel verstaucht und müsse nun ein wenig rasten. Der Kleine rührte sich nicht, um es nicht zu verscheuchen. Es saß eine Weile ganz still; dann hob und senkte es die Schwingen, wie um zu prüfen, ob sie wieder gingen, und auf und davon war es. In einiger Entfernung ließ es sich auf eine Blume nieder, die mehr als ihre Gefährtinnen im vollem Sonnenglanz lachte.
Der Knabe wandte sich ängstlich nach dem Hause, als fürchte er erwischt zu werden. Nach kurzem Lauschen hatte er sich überzeugt, daß Alles ruhig sei, und sich ein Herz fassend, stand er auf und humpelte dem Falter nach, – es war so verführerisch! Er wollte ihn nicht fangen. Wie hätte er daran denken können, einen Schmetterling zu haschen! Er wollte es nur betrachten, das wundervolle Thier. „Komm, komm, mein Thierchen!“ rief er lockend; aber der Unstäte flog weiter dem See zu auf die Terrasse, die von alten dichten Kastanien wie von einem Dache überschattet wurde und deren steinerne Balustrade tief unten der See bespülte. Schon von Weitem leuchtete die blaue Fluth durch die Lücken des alterthümlich ausgehauenen Geländers; das war herrlich für den kleinen Knaben, denn so sah er die Wellen wie eingerahmt, und das blendete ihn auch nicht, weil er dabei das Auge nicht zu erheben brauchte. Wieder drehte er den Kopf nach dem Hause um, aber nichts Bedenkliches zeigte sich, und so ward er immer muthiger und folgte seinem beflügelten Führer bis an den Rand der Terrasse. Hier mußte er nun freilich Halt machen, während der Falter lustig über das Geländer schwebte und sich mit ein paar schwirrenden Libellen im Schilfe um die Wette tummelte. „Der hat es gut!“ dachte der Knabe und schaute von dem leicht beschwingten Volke auf seinen
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_033.jpg&oldid=- (Version vom 17.12.2018)