Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
|
Teufel jagen; solch einem Speichellecker würde ich nie die Erziehung
des letzten Salten-Hermersdorff anvertrauen.“
Wika keuchte und pustete vor Zorn; sie hatte alle ihre guten Karten hingegeben, und nun mußte sie auch noch Grobheiten einstecken, statt auszutheilen; nun war sie doppelt abgetrumpft!
Wenn sie sich jetzt nicht Luft machte, so traf sie der Schlag, der Aerger mußte ihr eine Ader sprengen. Und sie hatte auch noch ihr Sonntagskleid an, dessen Taille enger war als alle anderen, während sie doch Sonntags noch ein Gericht mehr als in der Woche essen mußte.
„Ja, das kommt dabei heraus, wenn so alte Männer noch heirathen,“ zischte sie. „Dann kommen solche elende Krüppel auf die Welt, die der altersschwache Herr Papa nicht einmal erziehen kann und die dem Stande nur zur Unehre gereichen.“
„Mein Sohn wird uns keine Schande machen,“ sprach der Freiherr stolz und ein Anflug von Lebenswärme färbte sein welkes Gesicht, „er wird dem Stande nicht zur Unehre gereichen, wenn er auch nicht angethan ist, eine Regeneration des Adels in Deinem Sinne zu vollbringen. Du, Schwester, Du solltest mir meine späte Heirath am wenigsten vorwerfen, denn Du vor Allen hast mich dazu getrieben. Ich führte ein stilles friedliches Wittwerleben, als Ihr mit Bitten und Vorwürfen in mich drängt, mich wieder zu vermählen, damit die Güter nicht an die Salten-Steinegg fielen, die nichts für Euch gethan hätten, wenn Ihr mich überlebtet, und weiß Gott, der Herz und Nieren prüft, ich habe das Glück, in meinen alten Tagen noch ein schönes junges Weib und einen Sohn zu bekommen, theuer erkauft.“ Er hielt inne und preßte die Lippen zusammen, als wolle er die Bitterkeit, die darauf schwebte, noch im Entfliehen festhalten. Wika streifte ihn mit einem seltsamen Blick; sie hatte eine Bresche entdeckt, von deren Vorhandensein sie bisher keine Ahnung gehabt.
„Ich sage ja nicht, daß Du nicht mehr hättest heirathen sollen. Aber es war ein Unglück, daß Du bei der Wahl, die Du trafst, nicht auf uns hörtest; da hat Dir eben doch Dein altes Herz einen Streich gespielt. Du hättest ein bejahrteres reifes Mädchen mit Vermögen nehmen sollen, nicht diese goldlockige Schäferin von sechszehn Jahren, die noch Wunder meint, wie sie sich aufgeopfert.“
„Du kannst gut reden, wie ich es besser machen gesollt! Hatte ich noch viele Zeit mit der Wahl zu verlieren? Mußte ich nicht Gott danken, als er mir ein Wesen zuführte, so liebreizend und strahlend, daß ich hoffte, es werde meinen lichtlosen Abendhimmel noch einmal verklären?“
„Und wußtest doch, daß sie den alternden Mann nur nahm, um versorgt zu sein und ihres Vaters Schulden zu bezahlen. Wie kann man so verblendet sein, von solch einer Zwangsheirath Gutes zu hoffen!“
„Ich hatte kein schäferliches Glück erwartet oder verlangt. Ich hatte nur auf ruhige Freundlichkeit und Achtung seitens dieses sanften Wesens gerechnet. Hätte ich ahnen können, daß sie meinem väterlichen Wohlwollen, meiner bescheidenen Zärtlichkeit solchen Abscheu entgegensetzen würde!“ Er schwieg wiederum und sein Haupt sank tief herab, mechanisch schob er die Karten in der Hand zurecht und die alte Brust hob ein schwerer Seufzer.
Als die Schwester ihn so sitzen sah, den hoffnungs- und zukunftslosen Greis, da erweichte sich ihr Herz für ihn und ihre ganze Wuth warf sich auf die Schwägerin und deren Schützling, den Candidaten.
„Sie ist ein falsches Weib, diese schöne rothhaarige Adelheid, sie wird Dich noch zum Gespött machen.“
Der Freiherr hob den Kopf auf, er hielt den Athem in der Brust und die Karte in der Hand zurück, die er eben ausgeben wollte.
„Hast Du denn gar nichts gemerkt?“ fuhr Wika fort. „Hast Du denn nicht beobachtet, mit welchen Blicken der Candidat unter seinen buschigen Augenbrauen heraus Adelheid anschaut, und wie Adelheid sie sich nicht nur gefallen läßt – sondern erwidert? Kannst Du denn wirklich einen Augenblick im Zweifel sein, daß sich zwischen den zwei jungen leidenschaftlichen Menschen ein Scandal entwickelt, wenn wir sie so fort – –“
Wika blieb vor Schreck das Wort im Halse stecken, als sie ihren Bruder ansah. Er war aufgesprungen und hatte die Karten auf den Tisch geworfen, hoch aufgerichtet stand die zerfallene Gestalt vor ihr und aus den erloschenen Augen sprühte noch einmal der ritterliche Geist des Edelmanns auf sie nieder. „Wika!“ rief er und stemmte die eine seiner zitternden Hände auf den Tisch, die andere auf die Brust. „Wika, ich gebe Dir zu bedenken, daß Du hier Menschenleben auf Deiner Zungenspitze wiegst, denn wenn das wahr wäre, was Du glaubst, so könnte nur Blut den Schandfleck abwaschen. Deshalb hüte Deine Worte. Hast Du Beweise, so bringe sie mir, und ich werde die Ehre meines Hauses zu wahren wissen – aber noch ein Wort eines bloßen Verdachtes gegen mein Weib, das mir, wie es mich auch gequält, theuer ist, gegen den Mann, dem ich vor Allen die Wohlfahrt meines Kindes verdanke – noch ein Wort, Wika, und so wahr ich ein Salten bin, Du verlässest mein Haus für immer!“
Ohne eine Entgegnung abzuwarten, ging der alte Herr schwachen Schrittes aus dem Zimmer. Ein Augenblick völliger Rathlosigkeit kam über Wika, sie schaute auf die zerstreut hingeworfenen Karten nieder. Die dummen Königs- und Damengesichter stierten sie so schadenfroh an, wie sie dastand in ihrer Verlegenheit. Es war ihr so unerhört, daß sie einmal nicht das letzte Wort gehabt hatte, daß sie geradezu nicht wußte, was sie mit sich anfangen sollte, und sie brummte Alles halblaut vor sich hin, was sie dem Bruder noch hätte erwidern können, wenn er sie weiter angehört. Das war doch eine kleine Erleichterung. Sie sparte nicht mit Artigkeiten wie „Altersschwäche“, „Irrenhaus“, „verliebter alter Narr“ und dergleichen mehr, während sie die Karten zusammenraffte, und als Tante Lilly noch gar hereinguckte und verwundert fragte, zu wem sie spräche, fuhr sie mit einem donnerartigen „Laß mich in Ruhe!“ an dem zitternden Nestheckchen vorüber und watschelte nach ihres Bruders Zimmer. Sie wollte öffnen, die Thür war verschlossen; sie rief, keine Antwort, und doch hörte sie ihn drinnen mit schweren Schritten auf und nieder gehen.
„Es hat doch gewirkt,“ sagte sie beruhigt zu sich selbst.
Wie jede große Stadt besitzt auch Berlin ein zahlreiches Proletariat, darunter Hunderte und Tausende, welche am Morgen nicht wissen, wo sie Abends ihr müdes Haupt hinlegen und die lange Nacht zubringen werden. Die Menge der Obdachlosen steigt noch bedeutend am Anfang jedes Quartals, wo viele arme Familien von ihren Hauswirthen wegen Zahlungsunfähigkeit exmittirt und auf die Straße getrieben werden. Ganze Karawanen sieht man an den sogenannten Ziehtagen mit ihrem dürftigen Gerümpel oft in strömendem Regen oder erstarrender Kälte von Haus zu Haus irren, um ein Quartier zu finden, und an allen Thüren vergebens anklopfen, da den Unglücklichen nirgends aufgethan wird.
Im Sommer und bei guter Witterung bietet „Mutter Grün“, die freie Natur im „Thiergarten“ oder „Friedrichshain“, den Obdachlosen ein willkommenes Asyl. Von Zeit zu Zeit veranstaltet die Polizei eine großartige Razzia, wobei ganze Schaaren von diesen „wilden Chambregarnisten“, Männer, Frauen, Kinder, zwischen Dieben und Strolchen, liederlichen Dirnen und Gesindel von der schlimmsten Sorte, auch heruntergekommene Handwerker und Arbeiter, verarmte Familienväter, unglückliche Weiber aufgetrieben und zum Verwahrsam gebracht werden.
In der rauhen Jahreszeit gewähren die im Bau begriffenen Häuser, Brücken, Keller, Schuppen und besonders die Viehställe des am Landsberger Thore gelegenen Viehmarkts den erwünschten Schutz. Die besser situirte Minderheit, gewissermaßen die Aristokratie des Elends, welche noch im Besitz eines oder mehrerer Silbergroschen sich befindet, kehrt in einer sogenannten „Penne“ ein und zahlt für eine Schlafstelle obigen Betrag. Diese Hôtels der größten Armuth liegen größtentheils vor dem Hamburger oder
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_054.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2021)