Seite:Die Gartenlaube (1870) 162.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Mit ihr umherzuflattern, von Freude zu Freude mit ihr dahinzustürmen in wirbelndem Uebermuthe und sich daher sagen zu können: „Ich gehöre zu Dir und Du zu mir, und kein Anderer kann uns folgen in unserer seligen wilden Jagd!“ Welch ein mächtiges Drängen und Sehnen war es, das sich so plötzlich in dem Knaben regte, der sich bis dahin noch nie zu einer energischen Rebellion wider seine schwächliche Körperlichkeit aufgerafft hatte! Er wußte es selbst nicht; aber es war ihm, als könne die Zeit nicht mehr fern sein, wo er den Käfig, der ihn rings umgab, sprengen müsse.

Er bückte sich und streichelte den Hund, der so viel Zartgefühl hatte, nicht mitzumachen, was seinem Herrn versagt war. Das große Thier, das ganz genau wußte, wenn Alfred traurig war, leckte ihm die Hände und gab ihm die Pfote. Es war Alles, womit er ihm seine Theilnahme zeigen konnte, aber es war für Alfred genug. Die Beiden verstanden sich vollkommen. Victor und Aenny kamen zurück, der Hund knurrte Victor an, als er sich Alfred näherte.

„Wenn Du nur das Ungethüm in seinen Stall sperren wolltest!“ sagte Victor, „man ist ja seines Lebens nicht sicher.“

„Er knurrt Dich nur an, weil Du Dich vor ihm fürchtest,“ sagte Alfred, „und ihn gleich das erste Mal, als er auf Dich zukam, mit dem Säbel abwehrtest, das hat er sich gemerkt.“

„Ich mich fürchten vor solch’ elender Bestie?“ renommirte Victor, „nicht vor einem Bären, geschweige vor einem Hunde.“

„Nun, so geh’ doch hin und streichle ihn, wenn Du keine Angst hast!“

Victor näherte sich Phylax, er fletschte die Zähne gegen ihn. Victor wich zurück. Jetzt war’s an Alfred zu lachen; das ärgerte Victor und er that das Verkehrteste, er zog das Seitengewehr aus der Scheide und drohte dem Hunde. Da fuhr das Thier gereizt auf und sprang auf Victor ein. Dieser stieß einen Schrei des Schreckens aus. Alfred rief: „Phylax, laß ab!“ und augenblicklich gehorchte der Hund und kratzte Alfred zur Abbitte mit der mächtigen Tatze ein Loch in den Aermel.

Aenny lachte, und Victor war wüthend auf Alfred.

„Aenny, Sie sollen mit den jungen Herren zum Kaffee hinüberkommen!“ erscholl jetzt eine tiefe dröhnende Stimme auf Englisch.

„Ach Frank, lieber Frank! Bist Du da?“ schrie Aenny und schwang sich an dem Neger empor. „Nicht wahr, Du spielst heute mit uns, es ist ja Sonntag!“

„Wenn ich darf?“ sagte Frank und zeigte vor Vergnügen seine weißen Zähne. Die Beiden sprachen immer Englisch zusammen, und Victor, der es nicht verstand, ärgerte sich darüber.

„Du, Victor,“ rief Aenny, „heute wird’s hübsch, heute spielt Frank mit; Du glaubst nicht, was der für prächtige Sachen angeben kann!“

„Nun,“ sagte Victor mit verbissener Wuth, „da werde ich zu Hause bleiben. Wenn Du Deinen Bedienten zum Gefährten hast, brauchst Du mich nicht.“

Aenny sah Victor ganz erstaunt an. „Aber Victor, ich verstehe Dich gar nicht, was hast Du denn?“

„Ich unterstehe der junge Lord ganz gut!“ sagte Frank ernst in seinem gebrochenen Englisch-Deutsch. „Ich bin zu gemein für ihn. Ich werde nicht spielen mit Ihnen.“

Und er ging, ohne ein Wort weiter abzuwarten in seinem stolzen gleichmäßigen Schritt von dannen. Aenny schrie aus Leibeskräften und rannte hinter ihm drein. Auch Alfred wollte ihm folgen. Da kam Egon mit Adelheid und rief ihm zu, was geschehen sei. Alfred erzählte den Vorfall, und Egon zuckte die Achseln. „Ich kann Victor nicht Unrecht geben. Ein Diener ist kein Gesellschafter für die Kinder des Hauses, und nun gar noch ein Neger! Diese dem Thiere am nächsten stehende Race! Mich dünkt, jede feinfühlende Natur müsse sich entsetzen vor einem Anblick, der uns den Uebergang vom Menschen zum Affen in so empörender Weise zur Anschauung bringt. Wir müssen ja erröthen, Mensch zu sein, sobald wir solch’ ein Geschöpf auf eine Stufe mit uns stellen wollen!“

Alfred schwieg betroffen. Von dieser Seite hatte er es noch nie betrachtet. Es that ihm weh und doch konnte er nichts erwidern.

„Ueberhaupt, lieber Alfred, muß ich hören,“ begann Egon wieder, „daß Du noch keinen Begriff von den Rechten und Pflichten Deines Standes hast. Ich muß einmal mit Dir darüber sprechen.“

Egon legte Alfred’s Arm in den seinen und schritt langsam mit ihm im Garten auf und ab. Alfred hing mit Spannung an den Lippen des Onkels. Der schöne weitgereiste Weltmann, dessen Stirn die glühende Sonne des Orients im Dienste des Christenthums gebräunt, hatte einen mächtigen Nimbus für den phantasiereichen Knaben. Seine Rede war so melodisch fließend und so glänzend, so sanft und doch so voll Kraft und Eindringlichkeit! Wie sollte sie den Knaben nicht berauschen? Wie er ihm mit zauberischen Farben die Wunder des gelobten Landes ausgemalt, wo der menschgewordene Gott zuerst mit seinem Fuße die Erde berührt, so erweckte er jetzt dem Knaben das Gefühl für die Poesie des Adels von seiner Entstehung in den Zeiten der rohen Kraft an, wo er eisenklirrend, groß und fürchterlich über das niedere Gezücht herrschte, jede Stunde seines Daseins mit seinem Blute erkämpfen mußte und nebenbei in den Klöstern, geschützt von der Unantastbarkeit des heiligen Gewandes, die geistigen Schätze der Menschheit hütete, bis zu den Zeiten, wo er in seidenen Strümpfen und gepuderter Perrücke in amorettenverzierten Muschelgrotten Voltaire las und über Newton und Descartes disputirte.

Und immer war es der Adel, der in jeder Gestalt die Blüthe der Menschheit repräsentirte, der sich für die neuen Ideen in Kunst und Wissenschaft am lebhaftesten interessirte und ihren Schöpfern freundliche Asyle bot; der nebenbei jede Stunde bereit war, Gut und Blut für irgend eine große heilige Sache hinzugeben. Und dann kam die Zeit der französischen Revolution, die ihm zu allen seinen Kronen auch noch die des Märtyrerthums aufgedrückt. Er litt und stritt für das Recht der Gesalbten, und über den schönen edlen Häuptern, die unter der Guillotine fielen, grinsten die Fratzen der Jacobiner in ihrer cynischen Scheußlichkeit. Da war Egon nun auf dem Punkte, wohin er zielte. Da war nun das Volk, das der Herr Candidat so sehr liebte, in seiner ganzen Bestialität. Und gesträubten Haares hörte Alfred zum ersten Male in dieser Ausführlichkeit die gräuelvollen Details der Auflösung eines verfaulten Staatskörpers, natürlich ohne Erklärung der Ursachen und Wirkungen, außer Zusammenhang mit der unerbittlichen Consequenz der Geschichte, und sein reines Gefühl wandte sich mit natürlichem Ekel vor Gräueln ab, derengleichen die ganze Welt nicht aufzuweisen hatte. Und der Herr Candidat wollte, daß der Adel mit einem Stande, der solcher Entartungen fähig ist, gemeinschaftliche Sache mache?

Alfred mußte sich auf eine Bank setzen, ihm schwindelte.

„Und ist das heutige Volk ein anderes als das damalige,“ fuhr Egon fort, „wenn es jetzt auch in Frack und Cylinder einhergeht und die Manieren der Vornehmen geschickter nachäfft als früher? Sind einige fünfzig Jahre hinreichend gewesen, um das Jahrtausende alte gemeine Element in ein edles umzuwandeln? Dazu hätte ja ein Wunder gehört, und wo war dies Wunder? Ein solches Wunder hätte nicht unbemerkt vorübergehen können, aber Niemand weiß etwas davon! Hingegen schlug erst vor wenigen Jahren die glimmende Revolution auch bei uns von Neuem zur verheerenden Lohe auf. Ist es nun dem Adel zu verargen, wenn er sich mit unversöhnlichem Hasse von dem Volke und Allem absondert, was das Volk betrifft? Thut er nicht genug, wenn er ihm Spitäler erbaut, seine Kranken pflegt, seine Hungernden nährt? Wahrlich, mehr zu fordern wagt nur der Communismus. Der Communismus aber ist nichts anderes als eine Moral des Neides, der es nicht ertragen kann, die Vorzüge zu sehen, deren sich ein Stand vor dem andern erfreut!“

Egon hatte geendet. Adelheid glühte, seine Beredsamkeit hatte sie hingerissen, er war so schön in seinem heiligen Feuer. Alfred brach in Thränen aus. Der frische Seewind strich leise herüber und fächelte ihm die Stirn, und da innen in seiner Seele wimmelten kämpfende Fratzen wie scheußliches Gewürm durcheinander und schöne goldlockige Köpfe, wie der seiner Mutter, rollten abgehauen dazwischen durch. Er sprang auf und warf sich seiner Mutter an die Brust, alle Adern pochten ihm, er war außer sich.

„Sie haben ihn erschreckt, es war zu viel auf einmal!“ sagte Adelheid besorgt zu Egon. „Komm, mein Kind, ich führe Dich auf Dein Zimmer, damit Du ruhest.“

„Nein, laßt mich, laßt mich!“ schrie Alfred und stieß Mutter und Onkel von sich. „Das muß ich mit mir allein abmachen.“

Und er eilte fort, so schnell ihn sein lahmes Bein trug. Er ging nach dem Landungsplatz und warf sich in den Kahn, der dort angelegt war, und wie ein ungeduldiges Pferd an der Kette

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_162.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)
  NODES