Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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„Nicht ziemt’s dem Sänger, sich im Traum zu wiegen,
Nicht ziemt’s dem Sänger, müßig Tag für Tag
Im weichen Arm der Himmlischen zu liegen.
Fluch solchem Dasein! Bei dem Träumer nicht,
Nicht bei dem Schwächling wird die Muse rasten,
Doch immer gern sie dem die Kränze flicht,
Der muthig trug des Lebens Müh’ und Lasten.“
Es wird bald ein Jahr, am 18. Juli, daß ich zur sonntäglichen Nachmittagsstunde in der überfüllten Tonhalle des Johannisberges bei Bielefeld saß, entgegenharrend dem Beginne des Festes, welches der Gesangverein „Arion“ zu Ehren meines Nachbars Ferdinand Freiligrath in großartigstem Maßstabe veranstaltet hatte. Galt es doch, den aus der Verbannung Heimgekehrten auf der rothen Muttererde zu begrüßen, und war es doch ein Volksfest im eigentlichen und schönsten Sinne, denn das Volk hatte den treuen Sohn sich selber wieder eingeholt und dem Bedrängten es ermöglicht, die lang getragene Bürde schwerster Sorgenlast in der Fremde zurückzulassen. Glänzend hatte das deutsche Volk diesmal die oft wiederholte Anklage entkräftet, daß es nur um seine todten Dichter sich kümmere, und dem Liede eines Dichters war es nächst der warmen Ansprache des Comités gelungen, mit den Herzen auch den strengeren Verschluß der Geldbeutel zu öffnen. Soweit die deutsche Zunge klingt, hatte jener poetische Aufruf gezündet, der durch die Gartenlaube bis in das kleine Blättchen der deutschen Colonie auf dem Vorgebirge der guten Hoffnung seinen Weg um die Welt gemacht. Dies Alles zog mit innerem Jubel durch meine Seele, während die Klänge der Jubel-Ouvertüre um mich verhallten. Und nun sollte er den selbstgedichteten Prolog sprechen, er, der Freiligrath-Dotation verdienstvoller Förderer, mein langjähriger Freund und Gesinnungsgenosse, den ich trotzdem noch niemals von Angesicht geschaut, Emil Rittershaus aus Barmen.
Da stand er schon, vorschriftsmäßig angethan, eine hohe, kräftige Gestalt, eine westphälische Eiche im Frack, die gesammte Erscheinung vielleicht nicht im Einklange mit dem Bilde, unter welchem jugendliche Schwärmerinnen ihren Lieblingssänger träumen, aber auf den markigen Zügen den Ernst, in dem aufblitzenden Auge das Feuer des echten Mannes und Dichters. Er gewährt so ganz den Eindruck eines selbstgemachten Mannes, kernhaft Alles, auch die volltönende Stimme. Dichtung und Vortrag verfehlten
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 373. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_373.jpg&oldid=- (Version vom 21.6.2019)