Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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Terrain der Stranduferberge mit Verwüstung bedroht. Zugleich aber hat derselbe – und hier beginnt die Zukunftspoesie unsers Bernsteins – die praktische Ausführbarkeit eines rationell betriebenen Bergbaus beim heutigen Stande der betreffenden Technik als zweifellos, und überdem als, allem Vermuthen nach, höchst lohnend bezeichnet. Welch neue ungeahnte Perspective eröffnet sich da unsrer bisher so bodenarm geglaubten Provinz!
Vielleicht sehen wir schon in nächster Zukunft die hier nie – es sei denn als musikalische Siebenbrüder – geschauten schwarz beschurzten Gäste, die Genossen der Gnomen und Kobolde, der heiligen Anna schutzbefohlene Knappenschaar ihren Einzug halten und die jungfräuliche Samlanderde nach Schätzen durchwühlen, welche wir so lange nur als ein Geschenk der „vielbewegten“ Amphitrite anzusehen gewohnt waren!
E. Marlitt als Ehestifterin. Susanne Sophie, Freifräulein von ***, Erb-, Lehns- und Gerichtsherrin auf *** in dem als Barbarenland verschrieenen und dennoch lieben und fröhlichen Alt-Mecklenburg, erweist mir die schätzenswerthe Ehre, mich ihren Freund zu nennen.
Freifräulein Susanne Sophie, von aller Welt, welche sie kennt, nur „Frölen Kett“, respective „gnädig Frölen Kett“ (Sophie, Fiekettchen, Kettl) genannt, ist eine alte Jungfer mit wenig Bildungswitz zwar, dafür aber von der Natur desto reicher bedacht und begabt mit dem, was man Mutterwitz nennt. Liegt die alte Dame mit der deutschen Grammatik, ohne es freilich zu wissen, auch fortgesetzt in unauskämpfbarem Kampf, so hat sie dagegen das Herz auf dem rechten Fleck und die Zunge ist ihr keineswegs angewachsen. Freifräulein Kett ist eine echt in der Wolle gefärbte Aristokratin alten Schlags, aber die Biederkeit und Gerechtigkeit selbst; ein wenig derb allerdings und manchmal eigenwillig, aber dennoch voll Hochsinnigkeit und feinen Gefühls, wo es darauf ankommt, hülfbereit überall da, wo es Noth thut, und dann resolut zugreifend und nachhaltig Hülfe schaffend. Schon von ihrem vierzehnten Jahre an hatte sie, als fast unumschränkte Herrin und nahezu Alles leitende Gebieterin dem Gute, das jetzt ihr alleiniges Eigenthum ist, vorstehen müssen und daneben noch bei einer jüngeren Schwester, deren Geburt der Mutter das Leben gekostet hatte, Mutterstelle vertreten. Brüder besaß sie nicht, und ihr Vater war ein stets kränkelnder, menschenhassender Hypochonder, der kaum das Zimmer, niemals das Haus seit Jahren schon verließ.
Das Gut *** war zufällig ein Kunkellehen und darum konnte es Kett erben, aus welchem Grunde sie denn auch stets gegen einen Verkauf desselben entschieden und erfolgreich protestirte, so oft auch der Vater solchen anstrebte. Noch bei Lebzeiten des Vaters verheirathete sich die jüngere Schwester, wider Kett’s Willen, an einen bürgerlichen Justizrath, und ein Jahr nach Kett’s Volljährigkeit starb der Vater. Bewerber um die Hand der von der Natur auch äußerlich wohlbedachten Kett, der Besitzerin eines stattlichen Rittergutes, fanden sich genug, allein keiner derselben fand Gehör. Die Justizräthin war inzwischen Mutter eines Sohnes geworden, der einziges Kind blieb, und auf diesen Neffen übertrug Kett, die übrigens für eine ebenso prächtige wie originelle altjüngferliche Tante voraus bestimmt zu sein scheint, nunmehr alle Liebe, deren ihr reiches Herz fähig und bedürftig war. Dieser Sohn der Justizräthin, welche selbst bereits wieder eine fast vermögenslose Wittwe geworden ist, steht zur Zeit als Lieutenant bei den Uhlanen in *** und ist ein schöner und stattlicher Mann von vortrefflichen Gaben und vorzüglicher Bildung, ein tüchtiger Officier und dabei durchaus frei von jedem Vorurtheil seines Standes. Arthur – so mag der junge, jetzt fünfundzwanzig Jahre zählende Mann genannt sein – war von je der Tante Liebling und Erbe; sie sorgte darum auch seit seiner Geburt für ihn wie eine zweite Mutter, und hatte es schon vor vielen Jahren festgesetzt, daß er bis zu seinem siebenundzwanzigsten Jahre in der Armee dienen, dann sich, natürlich nach ihrem Geschmack und Willen und mit einer Donna vom reinsten blauen Blute, verheirathen und schließlich das Gut erhalten solle.
So war der Stand der Dinge in Kett’s Familie, als ich im Herbst des vorigen Jahres auf *** bei meiner alten Freundin Kett zu Besuch war, wo auch gerade der Neffe einen achttägigen Urlaub verlebte.
Während dieses Besuches vertraute mir der Letztere in einer stillen Stunde an, daß er sterblich verliebt sei, ein Zustand, der bei einem jungen Officier mir so alltäglich und natürlich erschien, daß ich anfangs nur mit geringem Interesse seinen Bekenntnissen horchte. Als er mich aber tiefer in sein Herz blicken ließ, steigerte sich unwillkürlich meine Theilnahme, und insbesondere bei der Schilderung, die er mir von Gretchen, dem Mädchen seiner Liebe, entwarf, war es mir, als hörte ich eine mir längst und sehr wohl bekannte Persönlichkeit schildern, obgleich ich das Mädchen niemals gesehen hatte, ja deren Familie kaum dem Namen nach kannte. Aber jede kleinste Linie des äußern und innern Bildes seiner Geliebten, das mir Arthur in Worten hinzeichnete, war mir genau bekannt, ja ich hätte sogar hier und da einige von ihm vergessene Lichter selbst noch aufzusetzen, das Portrait mit einzelnen wesentlichen Strichen noch zu vervollständigen vermocht.
„Und Sie werden wieder geliebt?“ fragte ich, als Arthur zu Ende war.
„Gretchen theilt meine Liebe mit gleicher Stärke.“
Ich schüttelte bedauernd den Kopf.
Der junge Officier verstand mich und seufzte.
Gretchen, ein so hochherziges, edelsinniges und feingebildetes Mädchen, wie sie nach des Geliebten Schilderung sein mußte, blieb trotzdem nur ihres Vaters Tochter, der nichts war als ein simpler, wenn auch äußerlich recht wohl situirter Mühlenbesitzer.
Arthur, immerhin glücklich, in mir einen Vertrauten und Helfer seiner Liebe gefunden zu haben, reiste, da sein Urlaub zu Ende war, ab, während ich noch blieb. Als später auch ich mich zur Abreise anschickte, sagte Kett zu mir:
„Hören Sie mal, liebster S., nu kommen bald wieder die langen Winterabende, schicken Sie mich doch mal wieder was Hübsches zu lesen mit raus.“
„Mit Vergnügen, Gnädige. Aber was denn so ungefähr?“
„Na, hören Sie, das müssen Sie doch besser wissen als ich!“
„Ja, ganz recht. Was meinen Sie zu einigen Bänden Gartenlaube?“
„Gartenlaube? Hören Sie ’mal, S., wie mich Frau von Pyrol gesagt hat, soll das ’n verdammt demokratisches Blatt sein, aber es schad’t nichts, schicken Sie ’s man. Was sind denn da eigentlich für Geschichten drin?“
Ich hörte kaum, was Kett sprach, denn sowie ich nur das Wort „Gartenlaube“ ausgesprochen hatte, war der nebelhafte Schatten, der nach Arthur’s Schilderung seiner Geliebten fortgesetzt vor meiner Seele geschwebt hatte, plötzlich lebendig geworden, hatte Gestalt und feste Formen angenommen, denn die Geliebte des Lieutenants war ja, zwar nicht das Urbild, aber doch das leibhaftige Ebenbild der – – –
„Na, sagen Sie mich blos, an was Sie so tief denken, daß Sie mich gar nich ’mal antworten?!“ unterbrach Kett laut lachend meine abschweifenden Gedankengänge.
„Wunderbar! Wahrhaftig wunderbar! Aber das ist eine glückliche Entdeckung, auf die sich eine Idee bauen ließe! Geht es so nicht, geht es niemals!“ murmelte ich halblaut, und antwortete dann der alten, noch immer mit verwunderter Miene mich anblickenden Dame:
„Verzeihung, Gnädige! Ich meine, das mit der demokratischen Tendenz der Gartenlaube geht so an.“
Kett schüttelte bedenklich den Kopf, murmelte etwas, was ich nicht verstand, und tippte sich, verständlich mir mit den Augen zuwinkend, mit dem Finger gegen die Stirn, was mich wider meine Gewohnheit so verwirrt machte, daß ich der alten Freundin nur hastig die Hand küßte und dann eilends in den Sattel meines schon harrenden Pferdes stieg.
Nächsten Tages sandte ich schon die beregten Bände Gartenlaube, welche unter Anderm auch E. Marlitt’s „Goldelse“ und „das Geheimniß der alten Mamsell“ enthielten, hinaus nach ***.
Bald nach Weihnachten war ich wiederum Kett’s Gast, um sie, wie ich übrigens fast mit Bestimmtheit vorhergesehen hatte, als eine begeisterte Verehrerin der Erzählungen Marlitt’s zu finden, insbesondere der „Goldelse“, was um so natürlicher erschien, als einem Charakter, wie dem Kett’s, ein so entschlossenes und selbstbewußtes, in sprödem Trotz, wie in liebender Hingebung gleich consequentes Mädchenbild voll Kraft, Leben, Seelen- und Willensstärke, wie das der Goldelse, gar nicht anders als sympathisch sein konnte. Ich nährte diese Begeisterung auf alle Weise, denn mein Plan, dem Lieutenant zu seiner Geliebten mit der Tante Segen zu verhelfen, war, in seinen ersten Umrissen wenigstens, bereits entworfen.
„Die Tante muß auf irgend eine Weise mit Ihrem Mädchen zusammengeführt werden,“ schrieb ich sofort dem Lieutenant. „Suchen Sie das zu veranstalten, lieber heute als morgen, der Zeitpunkt ist günstig. Giebt die Tante jetzt nicht ihre Einwilligung, erringen Sie dieselbe nie.“
Arthur schrieb mir voller Jubel zurück.
Auf einem Ball in ***, seiner Garnisonsstadt, sollte die Begegnung inscenirt werden, die Geliebte, nebst ihrer und Arthur’s Mutter, welche letztere in dem Landstädtchen ihren Wohnsitz hatte, und ihres Sohnes Liebe kannte und billigte, waren von meinem Plan unterrichtet, die beiden Mütter liehen ihm alle Unterstützung, auch Gretchen’s Mädchenstolz mußte sich fügen, und so galt es zuletzt denn nur noch Kett zur Reise nach *** zu überreden, welche Aufgabe die Justizräthin und ich glücklich zu Stande brachten.
Kett, die Justizräthin und ich waren schon im Ballsaal, als – es war so unter den Verschworenen verabredet – Gretchen mit ihrer Mutter eintrat, an der Thür auf’s Ehrerbietigste von den Herren des Ballcomité’s empfangen und zu einem Sitz geleitet.
Ich stand hinter Kett’s Stuhl, die Justizräthin saß neben der Schwester.
„Welche eigenartig prächtige Erscheinung, das Mädchen dort, Gnädige“! sagte ich zu Kett, als Gretchen an uns vorüberschwebte.
Die alte Dame wandte ihm ihre Blicke zu, doch kaum hatte sie das Mädchen erschaut, als sie laut und in ihrer derben Manier ausrief: „Donnerwetter! S., das is ja die reine Goldelse!“
Und wahrhaftig! das Mädchen war, in seiner äußern Erscheinung und Wesenheit mindestens, Zug für Zug das leibhaftige Ebenbild der „Goldelse!“
Arthur tanzte mit Gretchen. Die Tante folgte dem Paar mit seltsam sinnendem Blick. In einer Pause stand die Justizräthin auf und kam bald darauf mit Gretchen und deren Mutter zurück.
„Erlaube, liebe Schwester, Dir eine Pensionsfreundin, Frau Mühlenbesitzerin *** und deren Tochter Gretchen vorzustellen.“
Kett verneigte sich freundlich zwar, doch stumm, verließ aber mit keinem Blick das Mädchen, sie fixirte es, während die Justizräthin auch mich den beiden Damen präsentirte, so scharf und unausgesetzt, als wollte sie ihm bis in seiner Seele innerstes Mark schauen. Gretchen erröthete freilich bis unter die goldenen Flechten, aber mit freiestem, edelstem Anstand und mit einem köstlichen, seelenvollen Lächeln gab sie den Blick zurück.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 382. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_382.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)