Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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nicht daran denkt, Umschweife zu machen. Wer war der Mann? Aber das mußte die Mutter ja wissen, und wußte sie ’s nicht, so mußte es aus dem Briefe zu sehen sein.
Annette nahm die Ruder wieder auf, schiffte ihren Nachen zurück und eilte in ihren Thurm zurück, um ihrer Mutter den Brief des Fremden zu bringen.
Wenn ihre Mutter, dachte sie, während sie unter den Kastanien dahineilte, ihr es nicht sagen würde, was und wer der Mann sei und was er wolle – die Mutter war gegen sie ja oft so verschlossen und wortkarg –, dann wollte sie jedenfalls der französischen Dame erzählen, daß solch ein seltsamer Fremder da sei, der, nach seinen Reden zu schließen, ihr hierher gefolgt sei, und nach allem Anschein etwas wider sie im Schilde führe. –
Unter den mancherlei interessanten Erscheinungen des russischen Sociallebens, welche der Verfasser dieser Zeilen während eines mehrjährigen Aufenthaltes in dem uns benachbarten großen Slavenreiche zu beobachten Gelegenheit hatte, dürfte der außergewöhnlich starke Genossenschaftstrieb des russischen Volkes eine der kennenswerthesten sein.
Ein jeder Leser der Gartenlaube weiß, daß, um die deutschen Genossenschaften in’s Leben zu rufen und von kleinen Anfängen zu ihrer heutigen hohen Entwickelung zu bringen, es der ganzen bereiten Kraft und zähen Ausdauer unseres hochverdienten Schulze-Delitzsch bedurft hat. In Rußland finden sich die Genossenschaften oder „Artells“ zu vielen Tausenden über das ganze ungeheure Reich verbreitet; sie kennen keinen „Genossenschafts-Vater und -Anwalt“, sondern sind von selbst aus der ureigensten Initiative des ungebildeten Volkes herausgewachsen, ein lebendiger Trieb am vielverzweigten Baume des slavischen Volkslebens, überall anzutreffen und doch ohne Zusammenhang mit einander, ohne centrale Leitung. Sie sind hinsichtlich der durchgebildeten reichen Gliederung und feineren wirthschaftlichen Organisation von unseren deutschen oder den englischen etc. Genossenschaften himmelweit verschieden, namentlich unendlich einfacher, und dieses ihr primitives Wesen erinnert vielfach an den patriarchalischen Charakter, in welchem sich die russischen Zustände vor gar nicht so langer Zeit überhaupt noch bewegten; es erinnert außerdem lebhaft an ähnliche Erscheinungen bei anderen slavischen Völkern und bei deren Trümmerstücken, die durch deutsche Keilansiedlungen vom großen slavischen Grundstück abgesprengt worden sind und der Germanisirung entgegengehen.
Die russischen „Artells“ oder „beweglichen Gemeinden“ sind
einfach Vereine von Handarbeitern oder Fuhrleuten oder Handwerkern etc., kurz von Arbeitern ein und derselben Beschäftigungsart,
zu einer gemeinsamen, unter einem selbstgewählten Vorstande
stehenden Casse, gewöhnlich mit dem Zwecke gemeinsamer Mahlzeiten
und Nachtlagerstätten. Dieser Zweck erweitert sich gewöhnlich
schon durch die Lebensverhältnisse auch zu dem Zweck der gemeinsamen
Arbeit an ein und demselben Arbeitsplatze. Dabei waltet
überall der Grundsatz der gemeinsamen Haftung der Gesammtheit
für die Redlichkeit des einzelnen Artellmitgliedes. Die Formen der
Artells sind verschieden, weil sie sich allen wirthschaftlichen Bedürfnissen
des Arbeitsmarktes anbequemen; der Kern aber ist eigentlich
immer die Gemeinsamkeit des Tisches und nächtlichen Unterkommens.
Dieses Moment ist es, welches zurückweist auf ihr Bestehen
seit grauer Vorzeit, wo gemeinsame Mahlzeit, Arbeit und Arbeitserträgnisse
aus der Jagd oder Fischerei oder später des Ackerbaues noch eine
ganz allgemeine Einrichtung bei den verschiedenen Völkern und
Stämmen war. So haben einst unsere Urväter gelebt, so leben
noch heute slavische Dörfer in Oesterreich, so leben die meisten
heutigen uncultivirten Völker, die uns von Reisenden beschrieben
werden, wenn auch jetzt mit gemeinsamer Mahlzeit
nur der Familiengruppen. Die Aecker werden da, wo das Volk
schon zum Ackerbau vorgeschritten ist, und ebenso
bei den Südslaven gemeinschaftlich bewirthschaftet
und abgeerntet, worauf die Theilung der Feldfrüchte gewöhnlich
nach Familienhäuptern stattfindet.
Aus dem „Artell“ spiegelt vielleicht klarer als irgendwo das so gänzlich verschiedene Grundwesen der Germanen und Slaven wider. Im ganzen späteren deutschen Mittelalter und den ihm folgenden Jahrhunderten zerfällt unser gesammtes Städteleben in streng gegliederte kaufmännische und gewerbliche Genossenschaften oder Zünfte, die nur in straffer Zusammenfassung der Glieder ihre große geschichtliche Aufgabe zu erfüllen vermochten. Im schärfsten Gegensatze zu dieser festen Gliederung und Ordnung ist dem slavischen Volksgeiste von jeher da, wo kein gewaltsamer Zwang geübt wurde, jede strengere Gebundenheit, jede corporative Einigung im Geiste unserer Innungen fremd und entgegen gewesen. Rußland hat nie Zünfte besessen, und auch im Artell ist die Vereinigung trotz der gemeinsamen Haftung doch sehr lose. Wo der einzelne Russe sich unterordnet, da sucht er eben eine bequemere Sorglosigkeit, indem er die Mühewaltung für Tisch, Lager und wohl auch für Arbeitsbeschaffung einem Obmann überträgt. Dieser Obmann vereinnahmt die Löhne,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 485. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_485.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)