Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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No. 44. | 1870. |
(Fortsetzung.)
„Jedem ward auf Erden sein Theil zugewiesen, mein Theil sind die Armen und Elenden!“ so schrieb Alfred an Feldheim. „Für sie will ich leben und weder rechts noch links schauen. Ich war thöricht, zu hoffen – und noch dazu auf solch’ ein Weib – ich der Krüppel. Wie konnte ich mich so verkennen, mich in die Reihen Derer stellen zu wollen, welche Ansprüche auf Liebe und Liebesglück machen können! Doch es sollte so sein. Ich verstehe den Willen der Vorsehung! Wen sie einreihen will in die große Armee, die da kämpfen soll für Menschenwohl und Menschenrecht, dem brennt sie den Stempel des Unglücks in das Herz; denn nur wer selbst den Schmerz gefühlt, kann wahrhaft mitleidig sein. Wäre ich glücklich – ich vergäße vielleicht Derer, die es nicht sind – so aber muß ich ihrer denken, denn ich habe nun nichts mehr als sie!
Was ich als Knabe von den Johannitern geträumt, worüber Du oft lächelnd den Kopf geschüttelt, als Mann mach’ ich es wahr, ich trete in das Heer der Barmherzigen ein, zwar nicht, wie ich als Knabe geglaubt, in der Uniform der Johanniter, sondern in ihrem Geiste. Ich werde dem Orden den Eid des Gehorsams nicht leisten, denn ich will und muß frei sein, ganz frei, und was ich tue, das will ich thun aus eigener Kraft, nicht auf Befehl und mit Hülfe Anderer. Aber wo unsere Wege uns zusammenführen, da werde ich mich ihm freiwillig gesellen in echter Brüderlichkeit. Da der Krieg mit Dänemark nun erklärt ist, habe ich mich den Johannitern als Arzt zur Verfügung gestellt, denn es wird an Aerzten fehlen, und ich will von nun an immer da sein, wo ich am nöthigsten bin. Solltest Du je im Leben meinen Aufenthalt nicht kennen, so suche mich, wo das meiste Elend ist – dort wirst Du mich finden. Ich habe, wie Du weißt, die Chirurgie und die Lazarethkrankheiten zu meinem besonderen Studium gemacht und glaube in einem Kriege gute Dienste thun zu können. Meine Verbindung mit den Johannitern wird mir die Macht geben, manche nothwendige Reform im Militär-Sanitätswesen einzuführen. Ich werde sobald als möglich in mein Vaterland zurückkehren und die fast erloschenen Beziehungen meiner Familie mit einflußreichen Kreisen wieder beleben. Jetzt hält mich nichts mehr hier, denn meine Mutter darf auch nicht bleiben. Sie muß den Winter in Italien zubringen, ich bin täglich mehr um sie besorgt.
O Freund, laß mich weinen! Der Sohn reißt das Herz nur blutend los von der Mutter! Und dennoch, wenn ich sehe, wie sie lächelnd leidet, wie sie den Tod als Friedens- und Sühnungsengel erwartet, dann versiecht die Thräne des eigenen Schmerzes und in stummer Ehrfurcht staune ich das Wunder an, wie eine göttliche Seele die irdische Hülle abstreift und sich zu ihrer wahren Gestalt entpuppt.“
Er stand, als er dies geschrieben, auf und trat an das Fenster, dasselbe, durch welches sein Vater am Todesmorgen nach der Sonne ausgeschaut, die sich nicht mehr zeigen wollte. Er bewohnte jetzt die Zimmer seines Vaters. Er lehnte den Kopf an die noch triefenden Scheiben und preßte die Hand auf sein vereinsamtes Herz. Zwei große Schmerzen wühlten in ihm, um die verlorene Liebe und um die sterbende Mutter. Aber er klagte nicht, der bescheidene Mann, der so viel gab und so wenig forderte. Er kämpfte schweigend das Weh hinunter und Alles, was ihm verloren war. Er hatte während des Schreibens den Regenbogen nicht gesehen, dessen Anblick Aenny so mächtig ergriffen hatte, jetzt war es trübe und todt ringsum. Weit draußen auf dem See trieb das verlassene herrenlose Boot, aus welchem sich Aenny zu Victor geflüchtet. Diesem folgte Alfred lange mit den Augen, wie es ziellos, steuerlos auf den Wellen schaukelte. Dann kehrte er zu seinem Briefe zurück.
„Was nun die Mißernte betrifft,“ schrieb er weiter, „so kann da nur eine durchgreifende Maßregel helfen. Ich mag es mir überlegen, wie ich will, wenn wir nicht mit großen Opfern für Saatfrüchte und Wintervorräthe sorgen, so gehen wir einer Hungersnoth entgegen. Ich bin entschlossen, mit dem Bau der Fabrik zu beginnen und zwar jetzt gleich ohne Aufschub, damit die Leute sich nicht daran gewöhnen, von Almosen zu leben. Sie müssen arbeiten für das, was sie bekommen, und es sich erst verdienen! Nichts demoralisirt das gemeine Volk mehr, als Almosen. Sie dürfen gar nicht erfahren, daß Geld oder Geldeswerth auf irgend eine andere Weise zu erlangen sei, als durch Arbeit, sonst legen sie die Hände in den Schooß und hoffen auf den lieben Gott! Mache vor der Hand zwanzigtausend Thaler flüssig und kaufe Getreide, damit bezahleu wir die Löhne. Geld würde jetzt gar nichts nützen, sie würden es weder zusammenschießen nochn sparen, um einen großen Vorrath anzuschaffen, sie würden es nur vertrinken. Wer nicht um Lebensmittel arbeiten will, der soll verhungern. Die Strafen für den Trunk müssen von jetzt an verschärft werden. Wer betrunken zum Bau kommt, wird heimgeschickt und erhält für den Tag keinen Arbeitslohn. Jetzt oder nie ist es möglich, mit Erfolg gegen den Branntwein zu kämpfen,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 725. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_725.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)