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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

„Wir bekommen Besuch, Muhme,“ sagte diese; „Peter soll Army’s Mutter und die Nelly mit dem Wagen abholen.“

„Schön werd’ es bestellen.“

Die alte Frau ging hinaus, und als sie wieder eintrat, fiel der flackernde Scheiu der Lampe, die sie trug, auf ein ganz verweintes Gesicht, das vorhin die Dämmerung verdeckt hatte.

„Du hast geweint, Muhme?“ fragte Lieschen und beugte sich zu ihr hinunter.

„Nun ja, Kind, das kommt so – laß’ nur! Ich wollte Dir heute Abend ein paar Worte sagen, weil doch Dein Verlobungstag ist.“ Sie stellte die Lampe auf den Tisch und trat zu dem jungen Mädchen. „Sieh, Lieschen, ich hab’ immer gemeint, er würde einmal fröhlicher werden, dieser Tag, und hab’ gemeint, Du würdest einmal eine weniger blasse Braut sein. Es ist Dein Wille, Kind, Du sagst ja auch, Du bist glücklich, und hast den Eltern die Einwilligung auf den Knieen abgebettelt, aber mich, Lieschen, mich konntest Du nicht täuschen; ich weiß es ganz genau, wie es in dem armen kleinen Herzen da aussieht, und das thut mir so jammervoll weh; ich könnte schier vergehen vor Herzeleid.“

Sie wandte sich um, ging zur Kommode, zupfte die Decke zurecht und schob die Kasten auf und zu, und dabei liefen ihr die Thränen aus den Augen und fielen auf die alten Hände; Lieschen stand noch schweigend mitten im Zimmer.

„Daß Du so still bist, Kind, und so starr,“ sagte die Alte und trocknete sich die Augen, „das kann mich so angst machen; sprich doch, mein Herzel! Es wird Dir leichter darnach.“

„Was soll ich denn reden, Muhme? Ich habe ja nichts, wovon ich gern sprechen möchte,“ erwiderte sie.

„Komm einmal her zu mir, Liesel!“ bat die alte Frau, „versprich mir eins! Wenn er jemals vergessen sollte, was Du für ihn gethan, wenn er jemals unfreundlich zu Dir ist und ich lebe noch, Kind, dann komme zu mir! Dann werde ich mit ihm reden, und zum zweiten Male versucht er es nicht.“

Sie lächelte nur. „Aengstige Dich doch nicht, Muhme!“

„Und die alte Baronin, Kind, hast Du sie gesprochen?“

„Nein, Muhme, ich glaube, sie will mich nicht sehen.“

Die alte Frau fuhr heftig auf, und ihr gutes Gesicht sah einen Augenblick unbeschreiblich bitter aus; sie hatte eine derbe Rede auf den Lippen, aber ein Blick auf das bleiche Mädchen vor ihr ließ sie verstummen. „Lieber Gott!“ murmelte sie nur, „und das Alles, ohne Liebe!“ Und wieder füllten sich ihr die Augen mit Thränen.

Draußen fuhr eben der Wagen dröhnend über die Brücke, der die Damen von dem Schlosse holen sollte, zu gleicher Zeit aber wurde auch die Hausthür geöffnet; lautes Sprechen erschallte, und dann Dörte’s bedauerlicher Ausruf:

„Ach du lieber Gott! Ach Jesses!“

„Das war doch der alte Thomas aus der Pfarre,“ sagte die Muhme und öffnete die Thür. Richtig, da stand der alte krumme Mann, und die Mütze, die er in der Hand hielt, triefte vom Regen, und Dörte rief der Muhme entgegen:

„Ach hören Sie doch nur, das Karlchen von Pastors ist gestorben, vorhin; ach Gott, wie mir das doch leid thut!“

„Der Karl?“ fragte Lieschen und stand plötzlich neben dem alten Boten, „der Karl?“

„Ja, Fräulein, um sechs Uhr ist er eingeschlafen; ach, Fräulein Liesel, die arme Mutter und der Vater! Es war so ein prächtiger Junge; Gott, ist das ein Jammer da unten! Sie glauben’s gar nicht.“

Das junge Mädchen war noch in Mantel und Hütchen. Ohne sich zu besinnen, schritt sie der Hausthür zu.

„Wo willst Du hin, Kind? Kind, bei diesem Wetter!“

„Ich gehe zu Onkel Pastor, Muhme, laß mich – bitte!“

Und schon stand sie wieder in dem tosenden Wetter und kämpfte gegen den Wind, um vorwärts zu kommen. Die Rufe der alten Frau verhallten im Sturme, und über ihr bogen sich die Zweige der Erlen am rauschenden Mühlbache in wildem Kampfe. Da kam ihr ein Wagen entgegen; sie trat zur Seite und ließ ihn vorüber, und dann setzte sie desto rascher den Weg fort. Ihr schien es eine Wohlthat, dieses tobende Wetter; es war ja eine Qual, im geschützten Zimmer zu sitzen neben ihm; es sah aus wie ein Bild des süßesten Glückes, und es war doch kein Schatten davon; er liebte sie nicht; er hatte sie nur ihres Geldes wegen begehrt. Das Gefühl freudiger Aufopferung, mit der sie ihm ihre Hand geboten, verschwand vor dem Demüthigenden, was sie erlitten, und er selbst, der das Opfer angenommen hatte, was that er, nur die Demüthigungen zu versüßen? War es denn so schwer, ihr guter Camerad zu sein?

Wie wild die alte Linde ihre Aeste schüttelte, und wie rasch die Wolken dahin jagten am dunklen Himmel! Und dort unten im Dorfe, im Pfarrhause, da wurden Thränen geweint, bittere, heiße Thränen – wer doch auch weinen könnte! Aber sie wollte nicht, sie wollte ja nicht, daß die Leute sie so mitleidig ansähen, Vater und Mutter und gar die Muhme, selbst Dörte und Mine – nein, das war schrecklich, das konnte sie nicht ertragen.

Tönten da nicht eilige Schritte hinter ihr? Ja, und jetzt der Ruf „Lieschen! Lieschen!“ Sie stand still, das war ja seine Stimme, wenn sie jetzt ihm entgegen gehen, sich an seinen Arm hängen könnte, wenn er sagte: „Ich habe mich um Dich geängstigt, deshalb komme ich,“ aber nein, gewiß hatte ihn der Vater nachgeschickt, oder er wäre vielleicht Jeder gefolgt, er würde in diesem Sturme keine Dame haben allein gehen lassen.

„Aber Lieschen, ich bitte Dich,“ klang jetzt seine Stimme, „wie kannst Du in solchem Wetter ausgehen! Die Eltern ängstigen sich halb todt um Dich; hier ist ein Tuch von der Muhme, und warte, der Wagen muß gleich kommen; ich habe gesagt, daß er unverzüglich nachgeschickt wird. Bist Du noch immer die kleine leichtsinnige Liesel, deren gutes Herz in lichtlohen Flammen steht bei fremdem Unglücke?“ fragte er, ihr das Tuch umwerfend.

Sie lächelte bitter. „Pastors sind keine Fremden für mich; sie gehören ja wie zu unserer Familie.“

Er erwiderte nichts auf den harten Ton, und jetzt kam auch schon der Wagen heran und hielt dicht vor ihnen.

„Darf ich Dich begleiten?“ fragte er, ihr beim Einsteigen helfend, „oder ziehst Du es vor allein zu fahren?“

Sie wollte das Letztere bejahen, aber dann fiel ihr Blick auf ihn; er war nur im Waffenrock ohne Paletot.

„Ich will nicht, daß Du Dich meinetwegen erkältest,“ sagte sie tonlos, „bitte, nimm Platz!“

Nach kurzer Fahrt hielt der Wagen; Lieschen stieg allein aus und trat in die Pfarre; es war dunkel im Flur und still rings umher; sie tappte sich zur Thür der Wohnstube und klopfte. Fast unheimlich laut hallte es wieder, aber kein freundliches Herein! ertönte. Ein unerklärliches Bangen überkam sie hier im Hause des Todes, aber muthig tastete sie sich vorwärts. Da war die Treppe und jetzt, hier oben rechts, das Studirstübchen; leise klopfte sie; wieder keine Antwort, aber durch den Spalt schimmerte Licht – sie öffnete die Thür und lugte hinein; da saß der Onkel Pastor am Tische, das Gesicht in den Händen geborgen, und vor ihm lag die aufgeschlagene Bibel.

„Onkel Pastor! Onkel Pastor!“ rief sie aufschluchzend und barg den Kopf an seiner Schulter.

„Liesel, Du gutes Kind! Ja, es ist schwer über uns gekommen,“ sagte er ernst und strich ihr über die feuchten braunen Flechten, „und Du bist in dem Wetter hergegangen? Wie gut das von Dir ist! Nicht wahr – unser Karl. Lieschen, unser hübscher wilder Junge – o, es ist schwer, nicht zu murren gegen Gott. Meine arme Rosine! Er war ja ihr ganzer Stolz.“

„Ach Onkel, Onkel!“ schluchzte sie in heißem Schmerz, „wie ist das Leben doch so traurig, so schwer!“

„Du hättest nicht kommen sollen, gutes Kind,“ flüsterte es an des Mädchens Ohr, und die kleine Frau mit den nassen, gerötheten Augen, die eingetreten war, hob ihr den Kopf auf und küßte sie. „Es regt Dich auf, und Du könntest krank werden.“

„Soll ich den Karl nicht noch einmal sehen? Bitte, Tante!“ sagte sie noch immer schluchzend.

Und nebenan in der Kammer, da lag ein blasses Knabengesicht in den schneeweißen Kissen; leise trat sie hinzu und sah in die lieben wohlbekannten Züge – wie oft hatte der Mund da „Tante Lieschen“ zu ihr gesagt, wie oft hatten die großen Augen sie lachend angeschaut, und nun so still, so stumm! Die kleine Frau preßte wieder das Gesicht in die Kissen des Bettchens, und der Vater stand auf der anderen Seite und schaute auf das, was ihm noch geblieben von seinen stolzesten Zukunftsträumen. Lieschens Thränen aber hörten auf zu fließen; es webte so ein wundervoller Friede um des Kindes Antlitz vor ihr – wie schön mußte es sein, so süß zu schlafen, mit solch glücklichem Lächeln, ohne das Weh des Lebens erfahren zu haben!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 842. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_842.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2016)
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