Verschiedene: Die Gartenlaube (1879) | |
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No. 9. | 1879. |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.
„Der Bertus,“ fuhr Mutter Seger fort, „hat's bei seinem Fahren gelernt, wie man einer Sturzsee begegnet, und wenn Einer Dich wohlbehalten nach Hause schafft, so ist er’s. Außerdem geht gegen Abend der Wind gewöhnlich herunter.“
„Wir werden sehen,“ versetzte Kordel überlegend, obwohl eine Bootfahrt auf stürmisch bewegter See sie nicht schreckte; „bis zum letzten Augenblick möchte ich freilich nicht warten; ich könnte in die Lage gerathen, den weiten Landweg in der Nacht zurücklegen zu müssen. ’s ist zwar Vollmond, aber das hilft wenig, wenn der Himmel wie mit wollenen Decken verhangen ist. Und wer weiß, wann Euer Sohn heimkehrt!“
„Früh genug, Kordel,“ antwortete Mutter Seger, „und er müßte nichts von der Ehrlichkeit seines todten Vaters und von der Dankbarkeit seiner Mutter geerbt haben, wollte er eine Minute säumen, Dir zu Diensten zu sein. Weht’s aber, daß ein Boot nicht hinaus kann, so gehst Du deshalb nicht allein durch den Wald, Kordel; der Bertus begleitet Dich bis vor Deine Hausthür –“
„Was ich nicht dulde!“ fiel Kordel beinahe heftig ein; „nein, Mutter Seger, ich fürchte mich nicht, brauche Niemand zu fürchten, und wäre die Nacht so schwarz, wie die Außenseite von meines Vaters Boot. Er müßte ja fünf, sechs Stunden auf dem Hin- und Herwege zubringen, und woher sollte er die Kraft zur morgigen Arbeit nehmen?“
„Kraft?“ fragte die alte Frau mit einem Anfluge mütterlichen Stolzes, „o, der Bertus bleibt frisch und munter, und säh’ er in einer Woche kein Bett. Ich weiß es von ihm selber. Will er mit Dir hinübersegeln, so magst Du Dich ihm anvertrauen. Hält er den Landweg für sicherer, so gehst Du nicht allein.“
Kordel öffnete die Lippen, wie um eine Antwort zu ertheilen, und augenscheinlich eine unmuthige. Sie besann sich indessen, und abspringend erkundigte sie sich nach den häuslichen Verhältnissen ihrer alten Freundin, indem sie die Sauberkeit ihrer Umgebung pries.
„Besorgt alles der Bertus,“ lobte Mutter Seger ihren Sohn, „der hat auf den Schiffen Ordnung gelernt und weiß seine Hände zu rühren. Es wurmt mich wohl, wenn er den Fußboden scheuert, weil’s Weiberarbeit ist, allein er meint, es falle ihm nicht schwerer, als früher das Deck scheuern bei nüchternem Magen, und er thu’s gern, weil’s ihm sei, als lebe er an Bord, – ich muß wohl schweigen.“
„Und die Aepfel dort auf dem Bettgesims,“ sprang Kordel wieder ab, wie sie freundlich auf uns herunterschauen, und der große Tannenzapfen – ei, er hat sich geschlossen; das deutet auf böses Wetter.“
„Unser Wetterprophet,“ hieß es zurück; „wie manches liebe Mal hat mein Mann ihn befragt, bevor er zum Garnlegen hinausfuhr! Der Bertus meint zwar, das Ding sei unzuverlässig, aber weil’s dem Vater diente, betrachtet er’s als ein Heiligthum.“
So plauderten die Beiden lebhaft, und je länger sie mit einander sprachen, um so tröstlicher wirkte Kordel’s Nähe auf die alte Frau.
Draußen hatte sich unterdessen die Atmosphäre verdichtet; unfreundlich schnob der Wind um die Hütte herum und feindselig rüttelte er an den noch beladenen Obstbäumen. Die Fensterscheiben trieften unter dem feinen Regen. In der Hoffnung, daß der Himmel sich dennoch aufklären würde, säumte Kordel immer länger. Den Gedanken an den Wasserweg hatte sie längst aufgegeben; denn anstatt niederzugehen, nahm der Wind die Backen voller. Die alte Frau beachtete das Wetter kaum, und ihre Besorgniß um Kordel erstickte in der Ueberzeugung, daß es in der Gewalt ihres Sohnes liege, den Elementen zu gebieten.
„Es mag nicht in der Ordnung sein, über den eigenen Vater Reden zu führen,“ eröffnete Kordel nach einer längeren Pause ernsten Sinnes ein neues Gespräch, „allein wenn man Gutes bezweckt, kann nimmermehr Arges drin liegen. Ich möchte Euch nämlich über Manches befragen; denn mich an den Vater selbst zu wenden, scheue ich mich. Er ist reizbar, und ich würde ihn noch trüber stimmen. Schon ehe wir uns auf der Insel ansiedelten, war er wortkarg und verschlossen, und das hat seitdem zugenommen. Ihr und Euer Mann wart die Ersten, die wir kennen lernten, und ich habe nicht vergessen, daß ich manchen Tag in Eurem Hause verlebte, während der Vater den Bau unseres Hauses betrieb. Ihr wißt daher vielleicht mehr als ich, die ich in den Kinderjahren mich wenig um seine düstere Stimmung kümmerte.“
„Nichts weiß ich, Kordel,“ antwortete die alte Frau, „wenigstens nicht mehr, als andere Leute. Scheu war er immer, und wenn ich wöchentlich ein paar mal hinüber mußte, um die grobe Hausarbeit zu verrichten und Dich ein bischen anzulehren, so geschah’s wohl, weil er mit den Nachbarn im Dorf keine Freundschaft haben wollte. Ja, scheu war er immer, und oft fürchtete ich, ihm guten Tag zu bieten; denn hatte er mich vorher nicht gesehen, so fuhr er zusammen, als wäre eine Spiere neben ihm gebrochen.“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_141.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)