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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Die Fragerin ahnte etwas, aber sie wagte es nicht zu denken.

„Wer, wer?“

„Er – der hier unten in dem winzigen gesellschaftlichen Gewimmel die Rolle übernommen, die droben über uns am Firmamente Jupiter spielt: alle Bahnen zu kreuzen, zu verwirren, Planeten wie Asteroiden. Nun ist er ausgebrannt, Schlacke geworden. Auch sitzt er hinter festen Riegeln!“

„Was? Wer?“

Es war fast wie ein Schrei, der sich ihren Lippen entrang. Nun wußte sie alles, nun hätte der Alte Lideman’s Namen gar nicht mehr zu nennen brauchen. So lebhaft von Freude und innerstem Vergnügen war dieser jedoch bewegt, daß ihm völlig die Wandlung entging, die mit Regina vorgegangen war. Sie wankte nach einem Sitze und saß da, als hätte ihr Herz zu schlagen aufgehört. Ihre Züge waren wie verfallen; der Alte merkte es nicht. Er schlug immer wieder mit den Händen auf die Kniee und stieß fröhliche Lachlaute aus. Dabei erzählte er die näheren Umstände und bemerkte, daß Herr von Rechting zu dem Feste gekommen.

„Und wissen Sie, verehrte Freundin, wer dem Herrn Präsidenten die Larve, die er der Welt gegenüber trug, herabgerissen? Ich – ich war das Werkzeug.“

„Sie haßten ihn?“

„Ja, ja – ich haßte ihn. Nicht darum, weil er der Präsident, der Disponent des Geschäftes und ich der gehorsame Buchhalter. Solch gemeiner Gesinnung werden Sie mich nicht für fähig halten. Wer sich über die Erde hinausschwingt , der lernt anders denken. Er freilich behandelte mich immer wie einen Untergebenen – einen gedankenlosen Zahlenmenschen, eine Rechenmaschine, der nur eine Marotte hatte, die Sternguckerei. Diese Marotte schien ihm aber ganz bequem. Dadurch, meinte er, würde ich nicht sehen, was unter meinen Fingern hier unten vorging. Darum schenkte er mir auch ganz besonderes Vertrauen – die Correspondenz zu besorgen, die er – was sagen Sie dazu? – als geheimer politischer Agent mit dem Nachbarstaate führte. In Chiffreschrift natürlich. Aber die war nicht schwer zu errathen. Einem Schurken dienen zu müssen, der mein schönes, stolzes Vaterland verrieth! O Fräulein, oft ging es über meine Kraft, und es wühlte und gährte in mir, und ein paar Mal hatte ich darüber schon meinen Wasserkrug am Brunnen zerschlagen aus Unmuth, daß ich noch länger zusah. Das Rumoren über Ihnen, das war oft der Ausdruck meiner Wuth darüber. Einmal aber machte ich doch Miene, ihm einen deutlichen Fingerzeig zu geben, daß ich Alles durchschaute. Ich konnte es nicht länger mehr verantworten. Da bekam ich von ihm eine Einladung zum Diner und eine Cigarre – etwas ganz besonders Feines – sechshundert Mark pro Mille. Ja, etwas ganz Besonderes unterm Deckblatte – Sie haben mich damals in meinem Zustande gesehen. Der Doctor meinte zwar – eine Blutstockung. Es war aber doch Gift. Nun war ich, dem Präsidenten gegenüber, wieder mäuschenstille und wurde wieder dumm wie ein alter blödsinniger Sterngucker. Sehr dumm mußte ich aussehen, damit er glaubte, ich hätte nichts gemerkt, woher die Blutstockung gekommen. Ha, ha! Wie er mich bedauert hat, mit seinem unschuldigen Krokodilgesicht! Und er hat mich behalten – das war die Hauptsache. Meine Zeit abwarten – das mußte ich können. Die Beule mußte reif werden, die That – das Verbrechen positiv. Was kam heraus am Ende? Nichts Besondres; blos ein Bischen Auslieferung unseres Mobilisirungsplanes. Mit dem schuftigen Diener eines Generals hatte er sich zu diesem Zweck in Verbindung gesetzt – Pechner heißt der Mensch – ein Tölpel, den er durch Geld kirre kriegte. Die Pläne wurden aber nicht ausgeliefert. Ich war es, der sie in die Hände des Ministers zurücklieferte und die Anzeige machte. Darauf wurde Herr von Rechting entsandt. Ich weiß das vom Minister selbst – und das Uebrige – der Rest sind Schloß und Riegel und eine recht interessante Assisenverhandlung, zu der sich dieselben Menschen, die bei dem Präsidenten gegessen und getrunken und getanzt haben, um die Billets streiten werden.“

Regina schien während der Aufklärung, die sie hier durch ihren Nachbar empfing, äußerlich theilnahmlos, als wäre sie jeder Bewegung beraubt. Im grellen Gegensatze dazu stand die von äußerster Befriedigung eingegebene bewegliche Freude des alten Buchhalters.

„Nun, was sagen Sie zu dem Allen, verehrte Freundin? Habe ich das nicht gut gemacht? Oft schon schwebte es mir auf den Lippen, um Ihnen gegenüber von meiner geheimen Wissenschaft etwas verlauten zu lassen, aber immer wieder habe ich es zurückgedrängt. Man soll nie sagen, was man thun will. Und nun habe ich eine Sonne ausgelöscht. Wenn Sie wollen, treibe ich mit meiner Wissenschaft eine Art Astrologie. Was mich von Menschen und deren Thun umwimmelt, und was meinen blöden Augen unerklärbar ist, das stelle ich mir allemal unter einem Sternbilde vor. Jedem Menschen, der mich interessirt im Guten oder Bösen, geb’ ich den Namen eines Lichtkörpers, eines Fixsternes, Planeten oder Asteroïden, und nun aus den Bahnen und Bewegungen derselben ihr Zuneigen und Abirren beobachtend, deute ich mir das Leben um mich – das oft viel verworrener ist, als die Bilder da oben. Ah, wie prächtig!“

Mit diesem Ausruf war der Alte an das Fenster getreten und hatte es aufgerissen.

„Sehen – sehen Sie doch! Das hatte ich nicht erwartet! Da haben Sie die Situation. Venus war mit Jupiter in eine Conjunction getreten – und nun steht er wieder ferner von ihr als je. Kommen Sie mit hinauf! Wir wollen das weiter verfolgen. Der Himmel ist so hell –“

„Nein – nein – mein Himmel ist dunkel – dunkel!“ rief es in der Verzweifelnden.

Sie wies es ab, seiner Einladung zu folgen. Unter anderen Umständen würde diese Weigerung Herrn Warbusch verletzt haben. Aber heute war er in gehobener Stimmung. Er hatte, um in seiner eigentümlichen Anschauungsweise zu sprechen, einen Stern erlöschen machen. Der Präsident war durch ihn gefallen. Diese Genugthuung nahm er mit hinauf in seine Stube.

Regina kannte die Einzelnheiten der Vorgänge bei dem gestrigen Feste noch nicht. In ihrer inneren Anschauung ergab sich jedoch bald eine tiefgreifende Beziehung zwischen jenen Begebenheiten und ihrem eigenen Schicksal. Auf Lideman und sein Gelingen bei Doris war ihr ganzes Planen und Handeln gerichtet. Und nun waren alle diese fein gezogenen Linien gestört; ihre Berechnungen hatten sich als falsch erwiesen; jede Aussicht auf den Besitz des geliebten Mannes war ihr auf immer entrückt. Ihr Blick ging hinauf an den gestirnten Himmel. Wie oft war sie in Gedanken an Erich der Bahn Jupiters da oben gefolgt – nun war er von Venus ferner denn je!

Jetzt begann das Gewissen sein Gericht über ihr Thun. An starken Stämmen rüttelt der Orkan am wildesten, und der Sturm ihrer vom Gewissen aufgerüttelten Gedanken zog über sie hin. Immer wieder bäumte sie sich mit ihrer zähen, vollen Widerstandskraft dagegen auf. Mit der ganzen Energie ihres Willens, mit vollem Bewußtsein war sie daran gewesen, einen frevelhaften Eingriff in Herzensrechte zu machen, die in sich selbst und durch das äußere Gesetz geschützt waren. Ja – das hatte sie gethan. Warum aber war Gott an ihr vorübergegangen, als er die Stirn anderer Frauen mit jenem geheimnißvollen Zeichen segnete, durch welches das Weib zur Liebe und zum Glücke bestimmt ward?

Sie mußte abseits stehen bleiben. Keine starke Hand preßte sie an ein Herz, Niemand flüsterte ihr zu: „Du bist mein!“ Sie hatte das früher auch wohl gedacht, aber jetzt empfand sie es erst mit voller Gewalt, denn er, der Einzige, für den sie Leben und Alles gelassen hätte – er war ihr verloren! Warum hast du mich erschaffen – grollte sie zu Gott empor – warum hast du ein Weib aus mir gemacht, wenn du mich nicht wie mein Geschlecht zur Liebe erschufst? Habe ich kein Herz wie die Anderen? Pocht das meine nicht in volleren Schlägen, als das von Doris, die ein Recht auf diesen Mann gewonnen hat? Warum hast du mir das Blut des Südens verliehen, warum dieses heiße Herz in die Brust gesenkt, wenn es sich innerlich verzehren soll? Warum hast du mir diese Gestalt gegeben und keine andere, welche vor der Welt in allen Reizen einhergeht und gefällt und andere Herzen entzündet? Und wenn du das brennende Feuer südlicher Lebenslust in mir entzündetest – warum benahmst du mir dann den unbefangenen Genuß? Wozu gabst du mir daneben die rauhe, ungelenke Art des Nordens, warum den nordischen Zug des Gedankens, der aus der Leidenschaft ein Raffinement macht, des sittlichen Bewußtseins, das über die Leidenschaft wachen soll und dieselbe richtet? Warum lässest du mich die Schuld derselben so schwer empfinden? Ergebung in einen höheren Willen – Demuth und Geduld! Ja, das sind

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_155.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)
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