Seite:Die Gartenlaube (1879) 280.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

ob hier, oder in England – gleichviel! Es muß eben sofort geschehen, weil wir uns um jeden Preis der Mama gleich als Mann und Frau vorstellen müssen – dann hat ihr Einspruch keine Macht mehr.“

Ein rauhes Auflachen ließ sie zusammenschrecken. Sie hatte bis dahin den Rath nicht bemerkt, der in dem tiefdämmernden Amtszimmer, unweit der offenen Thür gestanden und die Vorgänge in der Hausflur mit gespanntem Interesse verfolgt hatte. Nun war er um einen Schritt näher in den hellen Lampenschein getreten; den linken Fuß vorgestreckt, die Arme untergeschlagen und den Ausdruck des verhallenden Hohngelächters noch auf dem schmalen, geistreichen Gesicht, stand der schlanke, hochgebaute Mann in diabolischer Ueberlegenheit an der Schwelle, als mache er sich lustig über die Narrheit der ganzen Welt.

Lucile klammerte sich fester an den Arm des jungen Mannes. „Ach, Felix, komm, wir wollen gehen!“ drängte sie mit ängstlich klagender Stimme vorwärts, aber die Majorin streckte ihr zurückweisend den Arm entgegen. Diese Bewegung war eine vollkommen ruhige, gebieterische, wenn auch der unnatürlich flimmernde Glanz der weitgeöffneten Augen von einem gewaltigen inneren Sturm zeugte.

„Ich möchte nur das Eine wissen,“ sagte sie kurz und gepreßt, als koste es sie namenlose Ueberwindung, das Mädchen anzureden, „sind Sie im Ernste so harmlos, zu denken, es stehe einzig und allein Madame Fournier die Macht zu, Einspruch zu thun?“

„Aber ich bitte Sie – wem denn sonst?“ rief die junge Dame wie aus den Wolken gefallen. „Papa und Mama sind in aller Form geschieden; Herr Fournier hat auch nicht das allermindeste Anrecht mehr an mich. Ich würde ihm auch nicht gehorchen; er verdient es nicht – er hat eines Tages Mama heimlich verlassen.“

„Classische Bühnen-Naivetät!“ scholl es sarkastisch vom Amtszimmer her, während die Majorin sich abwandte, als habe ihr das zierliche, sylphenhafte Wesen mit der zarten Hand einen Faustschlag in das Gesicht versetzt.

„Vergieb, Mama, und – lebe wohl!“ sagte Felix in bebenden Tönen, aber auch mit voller Entschlossenheit, um dem Auftritte, der auf einen furchtbaren Zusammenstoß hinauszulaufen drohte, ein rasches Ende zu machen.

„Also direct in die Ehe, Herr Referendar?“ lachte der Rath herüber.

Fortsetzung folgt.




Album der Poesien.
Lerchenlied. (Mit Bild, Seite 281.)

Hoch im blauen Himmelsrund
Laut die Lerche singt,
Was bei Nacht vom Blumenmund
Auf den Wiesen klingt.

5
Was sie sprach, die Elfenschaar,

Die im Tanz sich schwang,
Jubelnd macht es offenbar
Froher Lerchensang.

Weiße Wolke lauscht dem Lied,

10
Lauscht der Melodei

Und die weiße Wolke zieht
Langsam nur vorbei.

Und der Wand’rer unten geht
Langsam nur vorbei. –

15
Singe, singe, Lenzprophet,

Deine Melodei!
 Emil Rittershaus.




Zur Geschichte der Socialdemokratie.
Von Franz Mehring.

1. Einleitung.

Die „Gartenlaube“ ertheilt mir einen ebenso ehrenden und verlockenden, wie schwierigen und verwickelten Auftrag, wenn sie mich auffordert, ihrem weiten Leserkreise auf dem Hintergrunde der europäischen ein durchsichtiges und klares Bild der deutschen Socialdemokratie zu entwerfen. Wer, dem Lärm des Tages sich verschließend, den tieferen Zusammenhang der modernen Arbeiterbewegung zu erfassen sucht, wird in ihr das große Räthsel des neunzehnten Jahrhunderts erkennen, das unheimliche Fragezeichen, welches über allen Gütern der modernen Cultur schwebt. Kein Jahrhundert der Weltgeschichte hat eine gewaltigere und tiefere Krise um Sein oder Nichtsein der lebenden Geschlechter hervorgerufen. Denn gegen alles, was menschlichem Denken und Fühlen heilig ist in Ehe und Familie, Kirche und Staat, Kunst und Wissenschaft, stürmen finstere Mächte der Tiefe zum erbarmungslosen Vernichtungskampfe empor, und noch kennen wir nicht den Zauberspruch, welcher die dunkeln Gewalten bändigt und bannt. Das innere Geflecht eines so verworrenen Problems in allen seinen Verzweigungen aufzudecken, reichen dicke Bände nicht hin; ein Versuch, in wenigen Spalten mit sichern und starken Strichen wenigstens die Grundzüge dieses Gemäldes zu zeichnen, muß deshalb von vornherein um die Nachsicht des Lesers bitten. –

Der Socialismus ist so alt, wie die bürgerliche Gesellschaft. Bei der natürlichen Ungleichheit der Menschen hat es noch keine gemeinsame Ordnung gegeben, deren einzelne Glieder und Schichten unter völlig gleichen Verhältnissen gelebt hätten. Immer gab es Unterschiede mehr oder minder schroffer Art, Unterschiede, welche anfangs wesentlich in der natürlichen Ungleichheit der einzelnen Individuen wurzelten, aber bei der weiteren Entwickelung der gesellschaftlichen Verhältnisse häufig dazu führten, den Guten und Starken schwerer zu treffen, als den Schlechten und Schwachen. Irdische Weisheit hat das Glück noch nicht zu zwingen vermocht, immer mit der Tugend, oder das Elend, niemals mit dem Verdienste zu wandeln.

Solche vermeintliche oder wirkliche Härten haben von jeher die Sehnsucht nach einer besseren Welt schon unter dieser Sonne erweckt, gleichermaßen in erhabenen Geistern, welche schmerzlich die Beschränktheit alles menschlichen Lebens empfanden, wie in niedrigen Naturen, die ihre begehrlichen Hände nach unverdienten Preisen erhoben. So erklärt sich die befremdliche Erscheinung, daß die reinste Tugend und die roheste Sinnlichkeit, die edelsten Herzen und die gemeinsten Seelen sich in socialistischen Träumen zu begegnen pflegen. Die socialistischen Bewegungen aller Zeiten gleichen jener sagenhaften Hunnenschlacht welche Kaulbach in seinem berühmte Gemälde verewigt hat; in den Wolkenhöhen der Gedankenwelt tost die Geisterfehde, während ein rasender Kampf den irdischen Boden mit Leichen und Trümmern bedeckt. Wenig gräuelvollere Scenen weisen die Blätter der Geschichte auf, als die Sclavenaufstände des Alterthums und die Bauernkriege des Mittelalters, aber ein größter, griechischer Denker, Platon in seinen Büchern über den Staat, erbaute den ersten socialistischen Idealstaat; aus dem versinkenden Schutte der antiken Welt erhob sich der ideale Communismus der ersten Christengemeinden als froher Bote einer weltweiten Zukunft, und in den Tagen des „Armen Conrad“ veröffentlichte Thomas Morus, der edle Kanzler Heinrich’s des Achten von England, sein „Nirgendheim“, seine „Utopia“, deren Name seitdem sprüchwörtlich geworden ist für alle Träume von unerreichbarem Menschenglück. –

Naturgemäß werden socialistische Regungen am nachhaltigsten und stärksten hervortreten, wenn einerseits ein hoher Begriff von der rechtlichen Gleichheit aller Menschen in den Gemüthern lebt, während in den gesellschaftlichen Zuständen schroff die thatsächliche Ungleichheit hervortritt. Mit einer Schärfe, wie nie zuvor, trafen beide Momente in der großen Revolution von 1789 zusammen, und seitdem wurde der Socialismus eine Weltmacht. Die politischen Gedanken der Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1879, Seite 280. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_280.jpg&oldid=- (Version vom 1.5.2023)
  NODES
Idea 2
idea 2