Verschiedene: Die Gartenlaube (1879) | |
|
No. 35. | 1879. |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.
„Kinderraub am hellen Tage!“ rief die Frau mit ihrer markigen, tiefen Stimme. Sie schob die Kammerjungfer, welche Miene machte, sich ihr zu nähern, mit einer einzigen Bewegung bei Seite, trat weit ausschreitenden Ganges in den Garten und legte das schreiende Kind in die Arme der herbeieilenden Deborah. Dann kehrte sie ihr Gesicht den draußen Stehenden wieder zu, unbeweglich, wie eine Mauer den Rückzug der Wärterin deckend. Ihre mächtige Gestalt füllte nahezu den Thürrahmen.
Es war in der weiten, düsteren Hausflur des Klostergutes gewesen, wo sich diese zwei Frauen schon einmal gegenüber gestanden – die eine sylphenhaft und seidenrauschend, mit dem Schleier über dem Gesicht und dem im spärlichen Lampenlicht auffunkelnden Armschmuck an den Handgelenken – die andere, majestätisch trotz der Küchenschürze, mit dem vollen Haardiadem über der Stirn und den zermalmenden Worten eines Fluches auf den Lippen.
Diesmal flog der Schleier vom Gesicht der kleinen Dame, und ihre Augen funkelten feurig.
„Sie werden mir augenblicklich aus dem Wege gehen, Madame,“ sagte sie mit wuthzitternder Stimme. Sie stampfte den Boden mit dem kleinen Fuß und hob die Hände, um die Frau auf die Seite zu schieben und ihre eigene kleine Person in den Eingang zu zwängen.
„Berühren Sie mich nicht! Ich rathe es Ihnen,“ versetzte die Majorin, ohne sich zu bewegen, mit einem kalten Blick auf die leidenschaftlich gestikulirenden, schlanken Arme.
„Ah, wollen Sie mich mit Ihren großen, groben Küchenhänden zerbrechen?“ lachte die kleine Frau impertinent. „Ich fürchte mich nicht, wie Sie wissen. Ich habe Ihnen schon einmal mit diesen meinen Fingern, die Sie nicht für würdig halten, Ihre hochheilige Person zu berühren, ein Schnippchen geschlagen, an das Sie zeitlebens denken werden.“
„Sie haben wohl am wenigsten Ursache, zu triumphiren – meine Aussprüche haben sich bewahrheitet,“ erwiderte die Majorin zwischen den Zähnen hervor, mit einem Blick nach dem geschniegelten jungen Herrn, der, am offenen Wagenschlag stehend, ein so martialisch entrüstetes Gesicht machte, als wolle er die Widersacherin seiner Dame ohne Weiteres aufspießen.
Lucile sah flüchtig über die Schulter zurück.
„Bah, mein Secretär!“ sagte sie obenhin und wandte ihm wieder den Rücken, um auf’s Neue eine Bresche in den Garteneingang zu erzwingen.
Deborah’s fortgesetzte Alarmrufe klangen bereits entfernter; sie lief offenbar nach dem Säulenhause zu. Aber die Wegstrecke bis dahin war eine sehr lange – noch schien es möglich, der Wärterin das Kind abzujagen.
„Gott im Himmel, stehen Sie doch nicht so dumm und einfältig da, Forster!“ rief Lucile, abermals mit dem Fuße stampfend, nach dem Secretär zurück. „Allons – hinein müssen wir.“
Der Secretär stand mit einem Sprung dicht vor der Majorin und drückte sich herausfordernd den Cylinder fester auf den Kopf.
„Madame –“
„Ich bin die Majorin Lucian, mein Herr, wenn Sie meinen Namen wissen wollen, und – in den Garten kommen Sie nicht,“ sagte sie, wie festgewachsen auf der steinernen Schwelle verharrend. Sie hob nur den rechten Arm, um Lucile, die ebenfalls auf sie einstürmte, wie ein stechendes Insect von sich abzuwehren.
Die kleine Frau taumelte in die Arme ihrer Kammerjungfer. Sie war außer sich und lachte hohnvoll auf wie eine Bacchantin. „Ei ja, haben Sie immerhin Respect, Forster! Die Dame da in der blauen Küchenschürze, die sich vor dem Eingang aufgepflanzt hat wie der Engel mit dem feurigen Schwerte vor dem Paradiese, ist allerdings Major Lucian’s geschiedene Frau, das Bauernweib vom Klostergute, das mit Butter und Eiern handelt, die böse Sieben [WS 1], die Ehemann und Sohn in die Welt hinausgejagt hat.“
Sie trat wieder näher an die Majorin heran. „Fi donc, Madame, Sie sollten sich der infamen Rolle schämen, die Sie da wieder spielen! Aber was Wunder – es ist ja doch nur die Consequenz Ihres erbärmlichen Charakters, wenn Sie eine Mutter verhindern, in den Besitz ihres Kindes zu gelangen und ihr unbestrittenes Recht –“
„Wohl nicht so unbestritten, da es gestohlen werden muß,“ fiel die Majorin mit convulsivisch bebenden Lippen ein. Vom Garten her wurden jetzt Männerstimmen laut; Deborah rief nicht mehr um Hülfe; dafür schienen Menschen aus allen Richtungen zu kommen; denn man hörte hastig heranstürmende Schritte auf den Kieswegen. Lucile fuhr aufhorchend empor und schwang sich mit einem elastischen Sprung aus den Wagentritt.
„Himmelelement, da haben wir die Bescheerung – die Häscherbande kommt,“ rief sie grimmig. „Bah, für diesmal wäre das Spiel verloren, dank Ihrer gütigen Einmischung, wertheste
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 577. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_577.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: bösen Sieben