Verschiedene: Die Gartenlaube (1887) | |
|
Kurz wandte er sich von der maulenden Dirne und schritt mit verdrossenem Gesichte dem Hause zu. Schließlich beeilte er sich, die Schwelle zu erreichen. Es fielen schon einzelne schwere Tropfen.
Nun grollte, ohne daß man einen Blitz hätte aufflammen sehen, ein dumpfer Donnerschlag durch die Lüfte, und dicht fallender Hagel prasselte nieder über die Dächer.
Das Dorf hatte zu reden. Im Pointnerhof die neue Dirne – und draußen im „Binderholz“ der Bygotter!
Es verging während der nächsten Tage keine Stunde, ohne daß nicht ein paar Neugierige hinausrannten nach dem Binderholze. Das war ein herrlicher, weit sich hindehnender Tannenwald, der wie ein grüner Riesenriegel zwischen das Bergthal und das ebene Land geschoben lag. In sanfter Neigung zog der Wald sich beiderseits gegen die Berge hinan. Die Straße durchkreuzte ihn, dem Gehänge der Hügel folgend, in beträchtlicher Höhe über dem breiten Schluchtengrunde, durch welchen der Bach in kiesigem Bette seinen Weg nach der Ebene suchte. Je mehr sich der Wald dieser tiefsten Stelle des Thales entgegensenkte, desto reichlicher zeigte sich das sanftere Grün der Buchen und Birken zwischen den dunklen Wipfeln der Tannen, so daß in nächster Nähe des Baches nur noch vereinzelte Nadelpyramiden die dichten, langgestreckten Weiden- und Birkenfelder überragten.
Ein schmaler Fußpfad lenkte vom Dorf einher den Bach entlang und kreuzte sich im tieferen Walde mit einem schlecht gehaltenen, von der Straße sich abzweigenden Holzfuhrwege. Nahe bei dieser Kreuzung lag zwischen Tannenwald und Birkengehölz ein dreieckiger Wiesenraum, auf welchem das magere Gras in wucherndem Moose zu ersticken drohte. Ein verwahrloster Stangenzaun umgrenzte den Raum, in dessen stumpfem Winkel zwei uralte Eichen ein kleines, halbzerfallenes Haus mit dem spärlichen Schatten ihrer knorrigen, laubarmen Aeste bedachten. Das üppige, freundliche Grün des Epheus, der in engen Windungen die beiden Stämme umschlang, zwischen den Aesten sich fortspann und von ihnen seine netzartig verflochtenen Ranken niedersenkte über Dach und Wände dieses Hauses, vermochte den traurigen öden Anblick des Bildes nur wenig zu mildern.
Einer der Stürme, die hinweggebraust waren über die schutzlose Stätte, hatte den Kamin gebrochen, und die Trümmer lagen ausgestreut über das halbvermoderte und übel zerzauste Strohdach. Ueberall an den Wänden war der grobe, verwitterte Mörtelbewurf von der Mauer gebröckelt, und wo er noch an den Steinen hielt, war er durchzogen von klaffenden Rissen. An den Fenstern waren die Scheiben erblindet und zum Theile zerschmettert; die Läden hingen schief in ihren rostigen Angeln; Gras und Moos wucherte auf der verfaulten Schwelle, und graugelbe Schwämme wuchsen aus den Fugen der verschobenen Thür. Unter dem morschen Gebälk des vorspringenden Daches, wo einst mit fröhlichem Gezwitscher die Schwalben hausgehalten in sauberen Nestern, hatten sich die scheuen, piepsenden Rothschwänzchen mit Schmutz und Unrath eingemiethet. Aber auch sie waren davongeflattert und nicht wiedergekehrt, als der Bygotter mit seinem Kinde Einzug gehalten hatte in dieses armselige Haus, das sein Heim und Eigen war.
Vor vierzehn Jahren, da hatte der Bygotter wohl noch inmitten des Dorfes ein freundliches Häuschen besessen; in einer Nacht aber war es niedergebrannt bis auf die Grundmauern. Nur das nackte Leben hatten die Leute gerettet, und der Bygotter hätte betteln gehen müssen mit Weib und Kind, wenn nicht die alte Macksederin mit dem Schwiegersohn ihr Bischen Erspartes getheilt hätte, das sie im Laufe der Jahre von dem kümmerlichen Pensionsgehalte, das sie als Försterswittwe bezog, noch hatte zurücklegen können. Da hatte dann der Bygotter für eine geringfügige Summe das Binderholzhäuschen erworben, das sich schon damals in gar üblem Zustande befand, hatte das alte Gerümpel, mit dem es bestellt war, halbwegs wieder in brauchbaren Stand gesetzt und hatte sich mit den paar Gulden, die ihm noch zur Verfügung blieben, neues Handwerkzeug beschafft. Er war ein gelernter „Dusenmacher“, fertigte aus Lindenholz die verschiedenartigsten Tabackdosen, Büchsen und Kästchen, die mit gepreßten Birkenrinden überkleidet wurden, und war daneben, wie es sein Handwerk mit sich brachte, ein halber Zimmermann und halber Schreiner.
So begann er nun drauf loszuarbeiten – „viechmaßig“, wie ihm das ganze Dorf zugestand; aber Noth und Elend kauerten einmal an seinem Tische und fühlten sich gar wohl und heimisch unter dem unfreundlichen Dache. Die beiden Leute arbeiteten sich im wahrsten Sinne des Wortes die Nägel von den Fingern; aber sie saßen nun einmal auf dem dürren Zweige, und da war kein Loskommen mehr. Und immer noch verlor die Frau den Muth nicht, aber dem Mann begann die Kraft zu erlahmen; dabei wurde er allmählich das, was die Leute im Dorfe einen „Sinnirer“ nennen, ein Mensch, der unablässig die Frage auf den Lippen führt: „Was hab’ ich denn verschuldet, daß ’s g’rad mir so gehen muß?“ – und der, je müder ihm die Hände werden, um so fleißiger all sein Hoffen auf einen unerwarteten Glücksfall setzt.
Die unklaren Gedanken, mit denen der Bygotter verbitterten Gemüthes solch einem ersehnten Unerwarteten entgegensah, gewannen mit einem Mal eine bestimmte Richtung. Es war im dritten Jahre, nachdem er das Binderholzhäuschen bezogen. Da hatte ihm der Zufall eine jener Schwindelbrochüren in die Hände gespielt, welche die Versuchung hinauftragen bis in die höchsten Bergdörfer. Die utopischen Versprechungen, die der Bygotter aus dem abgegriffenen Büchlein herausbuchstabirte, gingen ihm Tag und Nacht nicht mehr aus dem Kopfe. Sein einziger Gedanke war nur noch das „Goldland über’m Wasser drüben“. Er sah sich in seinen Träumen schon inmitten des Urwaldes, den er sich ungefähr vorstellte wie die verwahrlosten Altholzbestände des Binderholzes; er sah und hörte schon die Bäume stürzen unter seiner sausenden Axt, sah auf der urbar gemachten Erde sein stattliches Haus stehen, sah schon die „Farmerer“, die er sich so ähnlich dachte, wie den reichen Freithhofbauern, den alten Pointner und den dicken Grundübler, mit Schmunzeln ihre Prisen aus seinen Birkendosen schnupfen, als hätten sie just auf den Bygotter und seine Schmalzlerbüchsen gewartet – und sah sich nach so und so viel Jährlein zurückkehren in die Heimath, das behäbige Bäuchlein umschnürt mit der von „Dullers“ strotzenden Geldkatze. Von Noth und Elend getrieben, verrannte er sich mit Kopf und Herz in diese für ihn so sonnenklaren Pläne und setzte zu ihrer Verwirklichung die ganze eiserne Zähigkeit ein, die er vorerst vergebens aufgeboten hatte, um sich aus seiner trostlosen Lage emporzuarbeiten. Ganz unerwartet fand er dabei einen eifrigen Helfer im Pfarrer des Dorfes. Dem hatten die „unchristlichen“ Reden nicht sonderlich getaugt, die der Bygotter in der letzten Zeit zu führen liebte; so suchte er diese Reisepläne in jeder nur denkbaren Weise zu fördern, brachte es zuwege, daß dem Bygotter alle Rückstände unter dem Titel eines „Gemeindegeschenkes“ erlassen wurden, und veranstaltete sogar noch eine Sammlung, welche einige hundert Gulden abwarf. Der Bygotter selbst machte zu Geld, was nur einen Käufer fand, sein Handwerkszeug, seinen Hausrath, seine Holzvorräthe – nur für das abgelegene, zerfallende Haus im Binderholze wollte sich kein Liebhaber nennen. Dafür aber gab die alte Macksederin ihr Letztes her – unter der Bedingung freilich, daß ihr Enkelkind, das sechsjährige Sannerl, unter ihrer Obhut in der Heimath verbleibe. Wie sehr auch Sanni’s Mutter dagegen jammern und sich wehren mochte: der Vater hatte ein rasches Ja gesagt, dem er auch Geltung zu verschaffen wußte. Es wäre so besser für das Kind, meinte er; dabei blieben ihm alle vorläufigen Mühsale erspart, während ihm die Annehmlichkeiten der späteren, glücklichen Zeit desto mehr zugute kämen. So siedelte das Sannerl zu der alten Macksederin über, die im Forsthause zwei kleine Hinterstübchen bewohnte – und der lachende Bygotter fuhr mit seinem weinenden Weibe auf einem mit Birkenreisern geschmückten Wagen zum Dorf hinaus, „fort ins Amerika“.
Elf Jahre waren seitdem vergangen, und nun war der Bygotter zurückgekehrt, ohne Weib, ohne gefüllte Geldkatze, mit einer Kiste, welche halb mit Zimmermannswerkzeug, halb mit zertragenen Gewandstücken und allerlei Bücherwerk angefüllt war, und daneben mit jener seltsamen Errungenschaft, um derentwillen er für die Meisten im Dorfe schon in der ersten Stunde seiner Ankunft ein Ziel des Spottes und Gelächters, für wenige ruhiger Denkende ein Gegenstand des Mitleids und der Besorgniß, für den hochwürdigen Herrn Pfarrer aber ein Gegenstand des höchsten Aergernisses geworden war.
Diese Befürchtungen schienen sich aber vorerst in nichts zu bewahrheiten. Der Bygotter ließ sich während der nächsten Tage
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 586. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_586.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)