Verschiedene: Die Gartenlaube (1887) | |
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No. 45. | 1887. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.
Die Geheimräthin.
Johanna starb vor fünfzehn Jahren, als ich schon verheirathet war,“ begann die Geheimräthin, nachdem Perser sich
niedergelassen hatte. „Erst kurz vor ihrem Tode hat sie mir das Geheimniß offenbart, an welchem sie schwer getragen und welches
verschuldet hat, daß sie nicht als Frau gestorben ist, ja vielleicht, daß sie überhaupt so früh hat dahingehen müssen. Nachdem ich
Wittwe geworden, auch meine Eltern nicht mehr lebten und dieses Haus längst in fremdes Eigenthum übergegangen war,
erfaßte mich ein unbezähmbares Verlangen, wieder in der ehemaligen Wohnung der Meinen zu leben."
„Wie segne ich diesen Entschluß,“ konnte sich Perser nicht enthalten, sie zu unterbrechen, „ich bin dadurch veranlaßt worden, die alte Treppe wieder emporzusteigen, in diesen Räumen mich wieder umzusehen, wo ich allein in meinem ganzen armseligen Leben etwas empfunden habe, was man Glück nennen kann. Könnte ich Ihnen schildern, gnädige Frau, wie mir bloß durch das Bewußtsein, wieder hier zu sein, zu Muthe ist! Sie würden vielleicht die Vergangenheit todt und begraben sein lassen, um einem Menschen, der sich niemals seines Daseins hat freuen können, einen süßen Augenblick nicht in Gift zu verwandeln.
Es war nicht gerade Unwahrheit, aber doch eine Selbsttäuschung in dieser Bemerkung Perser’s. Seine Lage voll demüthigender Sorgen allein hatte ihn beschäftigt, als er über die Schwelle getreten, aber der Anblick dieser Frau ihm wirklich die Empfindungen ins Herz gebracht, die er eben äußerte. Er empfand sogar noch mehr, als er äußerte. Er sagte sich, daß diese Frau ihm den Eindruck einer wunderbaren Schönheit mache, die ihn um so mehr entzücken mußte, als sie eben die Reife hatte, daß er in seinem Alter von fünfzig Jahren diese Schönheit auf sich wirken lassen konnte, ohne sich lächerlich vorzukommen.
Brigitta Forstjung hatte ihn bei den stürmisch und zugleich elegisch vorgebrachten Berufungen auf seine unglückliche Vergangenheit und die Süßigkeit des Momentes mit Befremden und Aufmerksamkeit betrachtet, und es war, als ob sie ihm Zeit lassen wollte, Stimmungen und Gedanken, die sich seiner bemächtigt hatten, wie sein Anblick deutlich verrieth, zur Ruhe zu bringen; denn erst nach langem Schweigen sagte sie:
„Ich habe mich jahrelang mit dem Entschluß getragen, Sie zur Rede zu stellen, wenn ich Ihnen jemals wieder begegnete; ich habe mir im Geiste die Worte vorgesprochen, in die ich meine Vorwürfe und Beschuldigungen kleiden wollte. Man giebt nicht in einer Minute auf, was man eine Ewigkeit lang zu thun sich vorgesetzt hat. Wie war es Ihnen möglich?"
Er senkte das Haupt, erhob es aber gleich wieder und äußerte frisch und munter, daß man mit fünfzig Jahren von selbst gesühnt habe, was man mit fünfundzwanzig Jahren begangen haben mag.
„Uebrigens, Frau Geheimräthin,“ fügte er hinzu; „ich habe zwar immer nur mit einem dunklen Gefühl von Reue an
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 741. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_741.jpg&oldid=- (Version vom 5.11.2023)