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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Ortszeit und Einheitszeit.

In seiner letzten Reichstagsrede am 16. März v. J. hat der verstorbene Generalfeldmarschall Graf Moltke noch eine Lanze für eine deutsche Einheitszeit gebrochen. Der greise Stratege, der zwar einer der fleißigsten Besucher der Reichstagssitzungen war, aber seine gewichtige Stimme fast nur zu erheben pflegte, wenn es sich um militärische Fragen handelte, ist mit diesem Eingreifen bei einem seinem Wirkungskreis anscheinend ferner liegenden Gegenstand dennoch seiner Gepflogenheit nicht untreu geworden, denn es waren militärische Gründe, welche ihn dazu bewogen.

Er ging von den Schwierigkeiten aus, welche dem Personenverkehr auf den deutschen Eisenbahnen aus dem Fortbestand der verschiedenen Ortszeiten erwachsen, und wies darauf hin, wie leicht es sei, daß bei den nothwendigen Umrechnungen dieser Ortszeiten ein Fehler sich einschleiche, der verhängnißvoll werden könnte, wenn es sich bei einer Mobilmachung darum handle, die vornehmsten Reisenden, d. h. die zur Vertheidigung des Vaterlands bestimmten Truppen, an die bedrohten Grenzen zu befördern.

Graf Moltke ist nun nicht der erste gewesen, welcher die Einführung einer deutschen Einheitszeit verlangte. Vor ihm haben schon verschiedene Leute, besonders Eisenbahnfachmänner, sich mit der Frage befaßt, ob es nicht für den täglich sich mehrenden Eisenbahnverkehr besser wäre, wenn die bis jetzt noch üblichen verschiedenen deutschen Ortszeiten, „eine Ruine, die aus der Zeit der Zersplitterung stehen geblieben ist“, abgeschafft und durch eine deutsche Einheitszeit ersetzt würden. Neuerdings hat sich auch der Deutsche Handelstag in diesem Sinne ausgesprochen. Freilich sind dagegen von zwei Seiten Bedenken aufgetaucht. Einmal sind es die Herren von den Sternwarten, welche mit einer deutschen Einheitszeit sich nicht begnügen wollen, sondern verlangen, daß, wenn überhaupt mit dem herrschenden System der Ortszeiten gebrochen werde, sogleich die Weltzeit zur Einführung gelange. Doch scheint dieser fromme Wunsch noch weit bis zu seiner Erfüllung zu haben, denn die Gelehrten streiten sich noch darüber, welchem Meridian die Ehre zu theil werden solle, der neuen Weltzeit zu Grunde gelegt zu werden, und – „wenn die Gelehrten streiten, ist eine Lösung in fernen Weiten“!

Von nicht gelehrter Seite dagegen ward die Befürchtung geäußert, daß die Einführung einer deutschen Einheitszeit Störungen im bürgerlichen Leben veranlassen könnte, sofern die Eisenbahn Uhren derjenigen Punkte, welche am weitesten von dem der Einheitszeit zu Grunde zu legenden Meridian entfernt wären, bis um eine halbe Stunde und darüber von den entsprechenden Ortszeiten abweichen würden. Doch darf man wohl annehmen, daß diese Störungen nicht so häufig oder überhaupt nur im Anfang eintreten werden. Empfindet ja doch auch heutzutage niemand mehr die Differenz zwischen der wahren Sonnenzeit und der mittleren Zeit eines Ortes, welche viermal im Jahre allerdings gleich Null ist, aber im Februar über 14 und im November über 16 Minuten beträgt!

Würde nun, wie Moltke vorgeschlagen, z. B. der Meridian von Stargard 15° östlich von Greenwich, 32,7° östlich von Ferro), welcher Deutschland ebenso wie Schweden, Oesterreich und Italien durchschneidet und welchen der Verein deutscher Eisenbahnverwaltungen zunächst für den inneren Dienst seiner „mitteleuropäischen Eisenbahnzeit“ zu Grunde gelegt hat, als Richtschnur für die zu schaffende deutsche Einheitszeit genommen, so ergäbe das eine Zeitverschiedenheit im Osten von 31, im Westen von 36 Minuten gegen die Sonnenzeit. Solche, ja noch größere Abweichungen sind aber in Amerika kein Hinderniß für den Verkehr und das Publikum geworden.

Ein Ausweg ist nicht wohl zu finden. Es kann sich nur darum handeln, zwischen zwei Uebeln zu entscheiden und das kleinere zu wählen. Denn so lange die Erde um die Sonne sich dreht, wird es verschiedene Ortszeiten geben, d. h. im Osten wird man früher Mittag haben und zählen als im Westen. Der dadurch entstehende Unterschied zwischen der Ortszeit zweier Punkte wächst mit der Entfernung ihrer Meridiane. Die Erde dreht sich in 24 Stunden um ihre Achse, was auf uns, die wir die Drehung der Erde sinnlich nicht wahrnehmen, den Eindrnck macht, als ob die Sonne den Weg rund um die Erdkugel in jener Zeit zurücklegte. Da nun die Erde in 360 Grade (Meridiane) eingetheilt ist, so wird die Sonne, um scheinbar von der Höhe eines Meridians bis zu der des nächsten vorzurücken, 24/360 Stunden, d. h. 4 Minuten brauchen. Es wird also ein Ort, der unter dem 31,1. Grade liegt, wie Berlin, Mittag haben, wenn der um einen Grad westlicher gelegene Ort, also ungefähr Leipzig, erst 11 Uhr 56 hat.

Diese Differenz der Ortszeiten ist natürlich unbedeutend und fällt im bürgerlichen Leben nicht ins Gewicht in solchen Ländern, welche keine besonders große Ausdehnung von Ost nach West haben. Deutschland erstreckt sich über etwa 17 Längengrade, was zur Folge hat, daß der Unterschied zwischen der Ortszeit im äußersten Osten und derjenigen im äußersten Westen 17x4 Minuten, d. h. etwas über eine Stunde, beträgt.

Wenn nun auch, wie Moltke richtig bemerkte, ein derartiger Zeitunterschied im bürgerlichen Leben keinerlei Störungen hervorruft, so giebt er doch zu unangenehmen Rechnungen Anlaß in allen den Einrichtungen, welche die Verbindung der fernsten Punkte unter einander zum Zwecke haben, wie Eisenbahnen und Telegraphen, oder welche mit Minuten und Sekunden, ja sogar mit Tausendstelsekunden rechnen müssen, wie die Sternwarten. Handelt es sich aber erst einmal um den internationalen Verkehr, wo Entfernungen von 17 Längengraden eine Kleinigkeit sind, dann wächst der Zeitunterschied ins große und mit ihm wachsen die Schwierigkeiten der Umrechnung und die Möglichkeiten von Irrthümern. Zur Veranschaulichung dieses zunehmenden Abstandes der Ortszeiten auf der Erde dient folgende Tabelle, welche die Zeit angiebt, welche die Ortsuhren der verschiedenen Punkte östlich und westlich von Berlin zeigen in dem Augenblicke, wann es in Berlin 12 Uhr mittags ist.

Wenn es in Berlin 12 Uhr mittags ist, ist es

in erst die Berliner Uhr
geht also vor um
in schon die Berliner Uhr
geht also nach um
Uhr Min. Sek. Std. Min. Sek. Uhr Min. Sek. Std. Min. Sek.
Rom 11 56 21 3 39 Stockholm 12 18 39 18 39
Kamerun 11 43 25 16 35 Kapstadt 12 20 20 20 20
Paris 11 15 46 44 14 Konstantinopel 1 2 21 1 2 21
London 11 6 2 53 58 St. Petersburg 1 7 39 1 7 39
Lissabon 10 30 2 1 29 58 Moskau 1 36 42 1 36 42
Madeira 9 58 43 2 1 17 Sansibar 1 43 12 1 43 12
Reykjawik (Island) 9 38 43 2 21 17 Teheran 2 32 15 2 32 15
Rio de Janeiro 8 13 51 3 46 9 Bombay 3 57 42 3 57 42
Boston 7 22 10 4 37 50 Tomsk 4 56 16 4 56 16
Montevideo 7 21 41 4 38 19 Kalkutta 4 59 46 4 59 46
Valparaiso 6 19 56 5 40 4 Padang (Sumatra) 5 47 46 5 47 46
New York 6 10 28 5 49 32 Peking 6 52 20 6 52 20
Havana 5 36 55 6 23 5 Jakutsk 7 45 23 7 45 23
Mexiko 40 30 4 7 29 56 Jeddo 8 25 24 8 25 24
San Francisko 2 56 45 9 3 15 Sydney 9 11 25 9 11 25
Tahiti 1 8 28 10 51 32 Auckland 10 45 33 10 45 33
Honolulu 12 35 4 11 24 56 Samoa 11 47 25 11 47 25

Dank diesen verschiedenen Ortszeiten ist es möglich, daß eine in der Richtung von Ost nach West verlaufende Bewegung in ihrem Endpunkt im Westen scheinbar früher wahrgenommen wird, als sie an ihrem Ausgangspunkt im Osten überhaupt angefangen hat, vorausgesetzt, daß die Schnelligkeit der Bewegung größer ist als die scheinbare der Sonne, d. h. der Erde.

Nun legt aber in einer Minute zurück:

ein Mensch (im höchsten Laufen) etwa ¼ Kilometer
ein Schnelldampfer ½      „
ein Rennpferd (im Mittel) 1         „
eine Brieftaube      „
ein Sturmwind      „
ein Blitzzug      „
der Schall in der Luft bei 0° Temperatur 26½      „
die Erde am Aequator 26¾      „
ein Geschoß der d. Küstenartillerie 30½      „
ein Geschoß des Infanteriegewehrs 88   36         „
der elektrische Strom 10¾ Mill. „
das Licht 18    Mill. „
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_142.jpg&oldid=- (Version vom 7.7.2023)
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