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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Sehen Sie,“ fuhr sie entschlossen fort, „obgleich es eine schlechte Entschuldigung ist und ich sonst gar nicht zugeben mag, daß eine Frau sich immer auf das Gefühl berufen soll, statt auf vernünftige Gedanken – ich kann nur sagen, daß ich damals furchtbar unglücklich war, hoffnungslos, aus Verhältnissen herauszukommen, in welchen ich mich langsam ersticken fühlte. Das alles hätte ich Ihnen damals nicht mittheilen können – heute ist es anders, ich fühle mich jetzt in der Freiheit als ein neuer Mensch und jetzt, abschiednehmend von den alten Verhältnissen und auch von Ihnen, ist es mir eine wahre Erleichterung, alles das einmal offen auszusprechen.“

„Heute sind Sie ganz glücklich, wie es scheint, Fräulein Paula!“

„Ja!“ sagte sie mit glänzenden Augen. „Jetzt habe ich erreicht, was damals unmöglich schien. Ich bin auf dem Wege nach Zürich und dort werde ich die Freiheit haben, nach Herzenslust zu arbeiten, alle Grundlagen selbst zu erwerben, statt nur immer die Resultate aus zweiter Hand zu nehmen; in einigen Jahren kann ich dann an der Schwelle einer eigenen Laufbahn stehen!“

War das dieselbe Paula, die sonst scheu jedem Gespräch auswich? Als unbefangener Beobachter hätte Thormann finden müssen, wie jetzt erst dies junge geistvolle Gesicht seinen wahren Ausdruck hatte und wie lieblich bei dem eindringenden Blicke der Augen die reine Unschuld des Mundes wirkte. Aber er schien nicht zu solcher Betrachtung aufgelegt, er fühlte sich von so viel kühler Selbständigkeit unangenehm berührt und sprach seinen Gedanken aus.

„Sie sind ehrgeizig, Sie möchten sich auszeichnen!“

„Ich möchte eine Pflicht haben und sie erfüllen,“ sagte sie einfach. „Ich glaube, daß es unerlaubt ist, nur für sich hinzuleben, ohne irgendwie zu nützen. Es giebt so viel in der Welt zu thun, wenn man den Willen dazu hat –“

„Sollte sich die Gelegenheit dazu nicht vor allem in der eignen Familie bieten?“ fragte er hartnäckig.

Sie sah ihn ohne alle Empfindlichkeit an: wenn das seine Meinung war, mußte er sie selbstverständlich aussprechen; allein einschüchtern ließ sie sich nicht dadurch.

„Die Familie!“ erwiderte sie lebhaft, „die Fessel, die tausend Mädchen bindet, ohne ihnen dafür das Gefühl der Unentbehrlichkeit zu geben! Wo schon zwei Töchter vorhanden sind zur Hilfe und Unterhaltung – muß da die dritte auch dabei bleiben, um unnütze Tage herumzubringen und fortwährend das Gefühl der eigenen Ueberflüssigkeit zu genießen? Wie viele meiner Bekannten leiden unter demselben Drucke, wie viele möchten ernstlich arbeiten, da man ihnen ja von Kind auf den Segen der Arbeit predigt, und dürfen es nicht, weil entweder der Anstand oder der Papa oder sonstige Rücksichten es verbieten. Heirathet ein Mädchen mit siebzehn Jahren, wohl und gut, dann entläßt die Familie sie mit Freuden –“

„Weil sie damit ihre Bestimmung erfüllt.“

„Und die vielen, die nicht dazu gelangen, die dann nach dem Tode der Eltern arm und unfähig zu einer Erwerbsthätigkeit dastehen? Ist es nicht grausam, ihnen eine solche Zukunft zu bereiten, nur damit Papa und Mama sich zeitlebens so recht gemühtlich im Kreise ihrer Töchter fühlen?“

Darauf war nicht so leicht zu antworten. Er sah sie nachdenklich an. Wieviel Bitterkeit mochte die junge Seele schon in sich verwunden haben! Und sie deutete mit keinem Worte auf eigene Leiden hin!

Schweigend saßen sich Paula und Thormann eine Zeit lang gegenüber.

„Ich begreife sehr wohl,“ sagte der letztere endlich, die vorher ausgesprochene Reue über seine Aufrichtigkeit schon wieder vergessend, „daß gerade Sie in Ihren häuslichen Verhältnissen sich nicht wohl fühlten.“

„Ich paßte nicht hinein, das war alles, und deshlab konnte niemand mit mir zufrieden sein. Mama hat auch mich sehr lieb, aber meine ganze Richtung war ihr ungeheuerlich. Und Vilma –“ sie sah den plötzlich sich verdüsternden Ausdruck seines Gesichtes und fuhr mit raschem Erröthen fort: „Utheilen Sie nicht hart über Vilma! Sie ist ein Ausnahmegeschöpf mit glänzenden Eigenschaften ausgestattet. Auch sie leidet unter dem Drucke der Verhältnisse, sie würde sich in glücklicheren ganz anders entwickelt haben.“

„Fräulein Paula –“ fing er an und stockte, denn, was ihm auf den Lippen schwebte: „Sie sind ein außerordentliches Mädchen!“ das konnte er doch nicht aussprechen und ebensowenig konnte er ihr hier vor den Leuten die Hand drücken wie er gerne gethan hätte. So blieb nichts übrig, als sie lange und eindringlich anzuschauen, wobei es ihm war, als sehe er sie heute zum ersten Male. Sie empfand darüber eine plötzliche Verlegenheit und wandte die Augen wieder durchs Fenster, der so lange vernachlässigten Aussicht zu.

Da ging ihm die Möglichkeit des Verabschiedetwerdens auf, und er beeilte sich, das Gespräch wieder anzuknüpfen.

„Sie haben sich also für ein Leben der Pflicht begeistert. Und der Gedanke, im fremden Lande allein unter fremden Menschen zu stehen, schreckt Sie nicht?“

„Es giebt ein schönes Wort, an das ich oft denke: ‚Die Erde ist überall des Herrn‘. Das heißt für mich: überall stehen wir im Dienste unserer Mission und finden Genossen dafür. Freilich an unser kleines persönliches Ich dürfen wir nicht soviel denken, es ist ja auch ein herzlich uninteressantes Ding, das muß sich unterordnen!“

Er lächelte. „Und wenn einmal – verzeihen Sie dem Ungläubigen, der Ihnen auf diese Höhe nicht zu folgen vermag – wenn einmal der Tag kommt, wo Ihr Herz, das so streng zur Ruhe verwiesene, doch sprechen wird?“

„Aber das hat ja längst gesprochen!“ rief sie eifrig, wie ein Schulmädchen, das recht haben will.

„Ah! ... In der That?“ stieß er verblüfft und merklich enttäuscht heraus, um nach einer kleinen Pause hinzuzusetzen: „Freilich, wie konnte ich das auch vergessen!“

„Sie?“ fragte Paula ganz erstaunt. „Ja, woher wollen Sie denn überhaupt etwas von mir wissen?“

„Nun, wissen wohl eigentlich nicht, aber vermuthen. Ich sah es selbst an jenem Winternachmittage im ‚Lehrlingshort‘, wie eifrig der junge Lehrer Ihre Gesellschaft suchte.“

„O,“ rief sie lachend mit der mädchenhaftesten Schelmerei, „das ist köstlich, da sind Sie hübsch fehlgegangen! Herr Lenz ist ja mit Selma Breitenbach, der Tochter des Vorstandes, im stillen verlobt. Der folgte er – freilich ging sie mit mir Arm in Arm.“

„Nun, wenn es also dieser nicht ist –“

„So braucht es noch lange kein anderer zu sein. Sie haben mich vorhin ganz mißverstanden und ich Sie auch, als Sie von dem Herzen sprachen. Ich wollte nur sagen: mein Herz ist aufs lebhafteste bei meiner künftigen Berufswahl betheiligt; alles Glücksgefühl, das ich jetzt empfinde, strömt ja einzig aus ihm hervor!“

„Eine seltsame Anschauung von Glück in so jungen Jahren!“ sagte er kopfschüttelnd.

„Sie ist für mich die natürliche,“ erwiderte sie einfach. „Jeder muß doch von seiner Stelle aus das Leben ansehen, nicht wahr? Nun, ich sehe, seit ich denken kann, ein rastloses Jagen nach persönlichem Glück, ich sehe Menschen, die scheinen wollen, was sie nicht sind, um Zwecke zu erreichen, die sie nicht eingestehen. Dabei täuschen sie sich doch fortwährend und werden innerlich klein, völlig unfähig, die großen geistigen Freuden des Lebens auch nur zu ahnen. Ist es ein Wunder, wenn man sich da einmal auf den gerade entgegensetzten Standpunkt stellt? Ich habe das natürlich ganz in der Stille gethan, denn so oft ich redete, wurde ich als ganz verkehrt und unpraktisch ausgelacht. Aber ich kann nicht anders fühlen; mir kommt das Geschenk des Lebens als etwas so Hohes und Wunderbares vor, dieses zum Licht Auftauchen für eine kurze Spanne Zeit, daß ich es wie ein Angstgefühl empfinde, nicht hinlänglich die Verpflichtungen zu erfüllen, die es auferlegt. Früher, wenn ich von großen Menschen las, pochte mir das Herz, es ihnen nachzuthun. Seither habe ich wohl eingesehen, daß das nur den Außergewöhnlichen möglich ist; aber zugleich ist es mir immer wärmer und beglückender zum Bewußtsein gekommen, daß auch der Bescheidenste wirken kann, wenn er sich ganz in den Dienst der Pflicht stellt. Und dies ist nun mein fester Vorsatz geworden, und wenigstens einer billigt ihn, mein lieber alter Onkel Mayer, der für mich der verehrungswürdigste aller Menschen ist. Wo mich das Schicksal künftig verwenden wird, weiß ich nicht, ich folge einstweilen dem Weg, den meine Fähigkeiten mir zeigen. Täusche ich mich über sie, reichen sie nicht zu einer guten Ärztin, so werde ich eine gute Pflegerin werden. Allein nützen und zugleich lernen – das werde ich immer können, und da dies nun einmal mein Begriff von persönlichem Glücke ist, so verstehen Sie wohl, daß ich eine außergewöhnlich glückliche Person sein werde!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_215.jpg&oldid=- (Version vom 28.1.2020)
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