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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


ein strammer Kerl, gern hat sie Dich auch, und das bricht immer wieder durch, wenn Du nicht locker läßt; darauf versteh’ ich mich. Jetzt siehst Du mir’s freilich nimmer an, aber als ich noch jung war und um die Marie warb – sie war guter Leute Kind und die Schönste im ganzen Dorfe und mancher Reichere wollte sie haben – da hab’ ich’s auch durchgesetzt. Mich nahm sie, den armen Teufel! Hab’ ihr’s freilich schlecht gelohnt – doch das gehört nicht hierher! Also ich sage Dir, die Geschichte ist immer die gleiche, es giebt kein Halten, wenn ein Mädel einmal richtig in einen vernarrt ist; und bei der schon gar nicht, die sieht gerade so aus. Und verlaß’ Dich nur auf mich, ich helf’ Dir, und die Sonntage sollen Dir nicht schaden. Von mir wird kein Mensch was hören und sehen. Einverstanden, Hans?“

Der junge Mann schlug mit Wärme ein, sein ganzes Innere war in Aufruhr. Das Unerklärliche, das er gestern gefühlt beim Abschied der Freundin, jetzt erst hatte er es begriffen. Der Schleier hob sich von seiner Seele, und er war glücklich, nicht allein zu sein mit seinem süßen Geheimniß. Des Vaters Herzlichkeit hatte in ihm das Gedächtniß an dessen Vergangenheit zurückgedrängt – wer anders sollte sein Vertrauter sein als er? Und war dieses neue Band, das sie beide verknüpfte, nicht kräftiger als das alte, längst verwitterte?

Mit glühenden Wangen verabschiedete er sich, da seine längere Abwesenheit Verdacht erregen konnte. Die Kleegasse kam ihm jetzt lang nicht mehr so häßlich vor, und das Klavierspiel, das aus dem „Jörgl“ herausdrang, erschien ihm wie eine heitere Begleitung zu seinen goldenen Zukunfsträumen. Den Schutzmann an der Ecke würdigte er keines Blickes mehr. Daheim schlich er vorsichtig die Treppe hinauf. Im Flackerschein des gegenüberliegenden Hochofens küßte er zum ersten Male das kleine Bild, das über seinem Bette hing – „Claire!“ flüsterte er leise.


5.

Alle Bemühungen des Kommerzienraths Berry, seinem Sohne Otto die militärische Laufbahn auszureden, waren vergeblich. Zu lange hatte er die sich frühzeitig kundgebenden Neigungen desselben gewähren lassen, hatte sie für kindische Spielerei gehalten, die mit den Jahren von selbst einer vernünftigen Ueberlegung weichen würde. Nun sah er zu spät ein, daß er den rechten Zeitpunkt versäumt habe, um erfolgreich auf den Sohn einzuwirken und ihn für den eigenen Beruf zu gewinnen. Entscheidenden Zwang wollte er nicht anwenden, damit wäre auch nach keiner Seite hin gedient gewesen. Zur richtigen Leitung eines so riesigen Unternehmens, wie das seinige war, bedurfte es vor allem der ganzen Kraft, des ganzen Interesses von seiten des Besitzers, und nichts war von Otto weniger zu erwarten als eben dies.

Die Kommerzienräthin, welche die Wahl des Sohnes durchaus nicht ungern sah, suchte den Gatten zu trösten, indem sie auf das aristokratische Blut hinwies, das in dem Jungen sich rege und gegen das sich nun einmal nicht ankämpfen lasse. Allein ihre Gründe wollten nicht recht verfangen. Berry hing mit Leib und Seele an seinem Werke, das er gegründet und auf solche Höhe gebracht hatte; er wußte auch sehr gut, daß er den Glanz seines Namens nicht der adligen Abstammung, sondern einzig und allein seinen industriellen Unternehmungen zu danken habe.

Das Geschäft blühte gerade jetzt wie noch nie zuvor. Bei der kürzlich vollzogenen Verstaatlichung der Eisenbahnen hatte Berry durch einflußreiche Beziehungen sich großartige Lieferungen zu beschaffen gewußt und war so in der angenehmen Lage, den Betrieb seiner Werke verdoppeln zu müssen. Und nun, wo er auf dem Höhepunkt seiner industriellen Laufbahn stand, schlug sein einziger Sohn das Erbe dieser Lebensarbeit aus für ein armseliges Lieutenantspatent! Das erschien ihm ungeheuerlich. Alle die Zukunftsträune, welche dem sonst kalt berechnenden und nüchternen Geschäftsmann die ehrgeizige Phantasie vorgaukelte, alle die Hoffnungen auf ein jede Konkurrenz überflügelndes Wachsthum seines Hauses über sein Grab hinaus – all das zerstob in nichts. Diese flammenden Hochöfen, diese ewig lebendigen Maschinen und Walzwerke, diese ganze lodernde, rastlos schaffende Welt, die sein Stolz war, sie sollte einst in einen toten Goldhaufen sich verwandeln, wie ihn jeder gewissenlose Börsenspekulant aufstapeln konnte, um ihn dann vielleicht von heute auf morgen an der Spielbank, im Freudentaumel der Großstadt sinnlos zu vergeuden!

Es kam zu heftigen Auftritten, dann wieder ließ sich Berry zu Bitten herbei – umsonst! Otto war schon frühzeitig ergriffen von der krankhaften Sucht nach äußerlichem Glanze und möglichst mühelosem Lebensgenuß; seinen scharfen Augen entging nicht die bevorzugte Stellung, welche der Offizier in der „Gesellschaft“ einnahm. Für den Werth der Arbeit hatte er kein Verständniß; wo sie ihm vollends wie in der Fabrik als Handarbeit entgegentrat , hatte er nur Geringschätzung dafür. Und der Kommerzienrath konnte sich nicht verhehlen, daß er selbst an dieser Gesinnung mitschuldig sei. Hatte er nicht die verkehrten Anschauungen seines Sohnes mit heranbilden helfen? Sein Unmuth gegen die stets murrenden Arbeiter, seine Klagen über ihre feindselige und ewig kampfbereite Stellung, welche die Großindustrie in ihren besten Plänen lahmlege und durch die sicherste Rechnung einen Strich mache – waren sie nicht gerade bei einem Knaben wie Otto ganz dazu angethan, eine gründliche Abneigung gegen jede Berührnug mit diesen Leuten zu wecken; durfte er sich wundern, wenn sein Sohn wieder und wieder erklärte, er wolle sich nicht sein ganzes Leben lang „mit dieaem Pack herumschlagen"?

Zu spät sah Herr Berry seinen Fehler ein. Aber gewohnt, mit unerbittlicher Scharfe aus jeder Sachlage die Folgerungen zu ziehen, ließ er sich durch diese Erkenntniß weiterführen. Er begann, seine eigenen Ansichten, die ihm in gesteigerter Einseitigkeit aus dem Munde des Sohnes entgegen traten, mit kritischem Blicke zu untersuchen, und gab sich Mühe, die Arbeiterverhältnisse so unbefangen zu prüfen, als dies seine bisherige entgegengesetzte Anschauungsweise überhaupt zuließ. Dabei ertappte er sich auf mancher Ungerechtigkeit. Zugleich regte sich in ihm ein Widerwille gegen die Vorurtheile, die seinen Sohn ihm entrissen und sich nun gegen ihn selbst kehrten. So gewöhnte er sich daran, gewisse Fragen von einer ganz anderen Seite zu betrachten und zu behandeln. Der ttebergallg vollzog sich naturgemäß langsam und zuerst fast unmerklich. Berry war in allem, was die Leitung seiner Unternehmungen anging, viel zu sehr gewohnt, kühl zu berechnen und immer zuerst nach dem eigenen Interesse zu fragen, als daß er sich jetzt unter dem Eindruck, den Arbeitern gegenüber manches versehen zu haben, zu einem auffälligen entgegengesetzten Verhalten hätte hinreißen lassen. Allein was anfangs ihm selbst kaum bewußt war und sich höchstens in größerer Theilnahme an der inneren Verwaltung und Einzelüberwachung der Werke mit ihren Beamten kundgab, das griff doch allmählich weiter und war nahe daran, zum bewußten Systemwechsel zu werden.

Nun konnte auch die Veränderung nicht mehr lange verborgen bleiben. Bald herrschte in den Werken allgemeines Kopfschütteln, man kannte Herrn Berry gar nicht mehr. Nicht daß er seine Leute jetzt mit Wohlthaten überhäuft oder in völlig anderer persönlicher Weise behandelt hätte, aber seine frühere kalte Zurückhaltung milderte sich zu ruhigem Ernste, seine Strenge ließ jetzt Ausnahmen zu und ward nicht selten durch etwas wie Wohlwollen unterbrochen. Ueberall, in den Werkstätten, in den Arbeiterwohnungen, war er nun zu sehen; Uebelstände, die bei dieser Aufsicht seinem scharfen Auge nicht entgehen konnten, wurden plötzlich aufgehoben. Die Direktoren und Ingenieure erhielten Öffentliche Rügen, und was bei Berry bisher unbekannt war, man wurde sogar für tüchtige Leistungen gelobt. Kurz, der Kommerzienrath, der bis jetzt in diesen Räumen als die unsichtbare böse Macht gegolten hatte, die den Arbeitern, wie sie sich erbittert ausdrückten, „das Mark aus den Knochen saugte“, trat mit einem Male menschlich mitten unter diese Leute, sie verblüffend durch seine ungewohnte Theilnahme an ihrem Wohl und Wehe.

Besonders erfreute sich Hans der Aufmerksamkeit seines Chefs. Es verging fast kein Tag, ohne daß ihn dieser bei der Arbeit aufgesucht oder sich bei seinem Meister nach seiner Aufführung erkundigt hätte. Dieses liebevolle Interesse bewegte Hans mächtig und spornte ihn zum Aeußersten an. Es war, als ob er alle Hindernisse spielend überwinden könnte; jedem mußten seine Fortschritte auffallen. Den Mangel an theoretischem Können suchte er in seinen abendlichen Freistunden durch Privatstudien zu ersetzen, der Tag gehörte den Maschinen. Mit scharfen Augen verfolgte er ihr mühevolles stückweises Entstehen, ihre erste Lebensregung, ihren geheimstenl Pulsschlag, all ihre tollen Launen, ihre Krankheiten, deren Heilung, ihren letzten Athemzug. Er beobachtete, daß trotz ihrer mechanischen, nach unumstößlicher

Berechnung sich vollziehenden Bewegung jeder einzelnen eine besondere

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 522. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_522.jpg&oldid=- (Version vom 28.5.2024)
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