Verschiedene: Die Gartenlaube (1892) | |
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Wird ein Untersuchungsgefangener in das Moabiter Gefängniß eingeliefert, so muß er, nachdem erst seine Eintragung im Bureau vollzogen ist, ein Bad nehmen; sind seine Kleider voll Ungeziefer oder sonst nicht mehr zu benutzen, so bekommt er Anstaltskleidung, im anderen Falle behält er den Anzug, in welchem er eingeliefert wurde. Sein Tageslauf ist von jetzt ab ein streng geregelter; früh morgens um sechs Uhr muß er sich auf ein lautes Zeichen hin von seinem Lager erheben und seine Zelle sowie deren Geräthe säubern; um halb sieben Uhr wird das aus warmer Suppe und Brot bestehende Frühstück verabreicht, dann ein Spaziergang unternommen auf einem der Höfe, die zwischen den fünf Flügeln des Gefängnißgebäudes liegen und kreisrunde oder ovale, mit Granitplatten belegte Wandelbahnen enthalten. Hier bewegen sich die Gefangenen mit fünf Schritt Abstand täglich eine Stunde lang, selbstverständlich unter Aufsicht und ohne daß gesprochen oder irgend eine sonstige Verständigung unternommen werden darf. In seine Zelle zurückgeführt, verläßt sie der Gefangene gewöhnlich an diesem Tage nicht mehr; er kann sich eine Beschäftigung, wie Wollezupfen, Dütenkleben u. s. w. ausbitten oder als „Kalfaktor“ zu den häuslichen Verrichtungen – Kochen, Waschen, Scheuern – melden, ein Zwang aber wird in dieser Beziehung auf ihn nicht ausgeübt. In jeder Zelle liegen zwei Erbauungsschriften auf, der Verhaftete kann jedoch noch andere Lektüre – Zeitschriften, geschichtliche, naturwissenschaftliche und ähnliche Bücher – aus der über dreitausend Bände enthaltenden Bibliothek beziehen, die ein Strafgefangener verwaltet; allerdings wird je nur ein Band für die Woche ausgeliehen. Um halb zwölf Uhr mittags wird in sauberen Blechschüsseln das Essen verabfolgt, durchaus schmackhaft und kräftig zusammengesetzt aus Hülsenfrüchten oder frischem Gemüse nebst Kartoffeln und Fleisch oder Schmalz; abends um halb sieben Uhr giebt es wiederum eine warme Suppe nebst Brot. Um acht Uhr muß sodann auf ein bestimmtes Zeichen in allen Zellen das Licht erlöschen, und tiefe Ruhe kehrt in das weite Gebäude ein.
Zweimal in der Woche und zweimal des Sonntags findet in der kleinen Kapelle des Gefängnisses, in der auch die Schule abgehalten wird, Gottesdienst statt; der Zuhörerraum dieser merkwürdigen Kirche ist amphitheatralisch gebaut und enthält gegen achtzig schmale, vorn offene, sonst aber vollständig voneinander abgeschlossene und überdachte hölzerne Zellen, so daß die Gefangenen sich weder sehen noch sprechen können. Der Zugang erfolgt durch eine schmale Thür von der oberen Reihe der Plätze aus, in solchem Abstand, daß der erste Gefangene schon in seinem Gehäuse sitzt, wenn der zweite in die Kapelle eintritt, und so fort; in gleicher Weise verlassen die Zuhörer den Raum, in dem sie während des Gottesdienstes durch zwei Beamte beaufsichtigt werden.
So scharf nun auch die Ueberwachung der Untersuchungsgefangenen ist, so diensteifrig die zahlreichen Beamten sind – es giebt ihrer 120 – so stehen die Verbrecher doch häufig in geheimem Verkehr miteinander, tauschen ihre Erfahrungen und Befürchtungen aus und geben sich gegenseitig Winke für die bevorstehenden Verhöre und Gerichtsverhandlungen. Den gewöhnlichsten Weg für diese oft erstaunlich sinnreichen und erfinderischen Verständigungen bilden die „Kassiber“, kleine Stückchen Papier mit Notizen, die bei irgend einer Gelegenheit – dem erwähnten Spaziergang, der Vorführung vor den Richter, einer gemeinsamen ärztlichen Untersuchung – einer dem anderen zusteckt; auch von einer Zelle zur anderen wissen sie durch eine völlig ausgebildete „Klopfsprache“ einen Verkehr herzustellen; für jeden Buchstaben besteht nämlich ein besonderer Klopfton, und die Wände der Zelle, die Heizungsröhren geben für diese merkwürdige Sprache den Schallleiter ab. Auf diese Weise erhält oft ein schon seit längerer Zeit Verhafteter von seinem Zellennachbar, der erst neuerdings eingebracht wurde, die wichtigsten Nachrichten über Vorkommnisse in der „Außenwelt“ und kann danach sein Vertheidigungs- oder Ableugnungssystem einrichten. Ja, die Spitzfindigkeit auf diesem Gebiet geht bei erfahrenen Verbrechern so weit, daß sie sich bei den Schulstund[e]n in der Kapelle, wo keiner den anderen sieht, wohl aber jeder den anderen hört, durch den Wortlaut und die Betonung ihrer Antworten zu verständigen wissen! Auch Thüren, Bänke, Tische etc. werden zu allerhand Mittheilungen benutzt, die häufig mit den Fingernägeln, mit einem Steinchen oder einer Stecknadel eingeritzt werden; die Innenseiten der Thüren und die Wände jener Räume, in denen die Untersuchungsgefangenen im Moabiter Kriminalgerichtsgebäude sich aufhalten, ehe sie vor den Untersuchungsrichter gelangen, weisen häufig wahre Blumenlesen solcher „Bekanntmachungen“ auf. Da liest man: „Traut nicht dem Bäckerfritzen, er hat gepfiffen“ (verrathen), oder: „R. soll alles einräumen, ich komme dafür ’raus“, oder auch eine Frage: „Was macht E.? – Ich sitze seit sechs Wochen in Untersuchung.“ Selbst poetische Gemüther haben sich hier verewigt:
„Wer Freiheit nicht zu schätzen weiß,
Darf nur dies Haus betreten,
So wird er schon in kurzer Zeit
Für seine Freiheit beten!“
und ein anderer Reim versichert:
„Selbst in dem tiefsten Kellerloch
Denk’ ich an meine Liebste noch!“
Freilich sorgen Oelfarbe und Tünche bald genug für das Verschwinden dieser Korrespondenzen, aber in vielen Fällen haben sie inzwischen schon ihren Zweck erfüllt, und wenn sie auch nicht gerade von jenen Gefangenen, an die sie gerichtet sind, an Ort und Stelle gelesen werden, so gelangt ihr Inhalt doch bei der nächsten Gelegenheit durch die Vermittlung hilfreicher Genossen an seine richtige Adresse. –
Wir haben oben angeführt, daß nach dem Abschluß der Untersuchung das gerichtliche Verfahren eröffnet und der Gefangene, je nach der Schwere seiner That, vor die Strafkammer oder das Schwurgericht gestellt wird. Diese Verhandlungen finden ausschließlich im Moabiter Kriminalgerichtsgebäude statt, „im Kriminal“, wie die Verbrecher sagen, oder kurz: „in Moabit“, wie es im Publikum heißt. Der Verkehr im Innern des neu erbauten gewaltigen rothleuchtenden Gebäudes, das dem ganzen angrenzenden Stadttheil seinen Stempel aufgedrückt hat,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 733. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_733.jpg&oldid=- (Version vom 15.4.2024)