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Artikel „Sturm, Johann“ von Theobald Ziegler in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 37 (1894), S. 21–38, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sturm,_Johann&oldid=- (Version vom 5. Dezember 2024, 21:54 Uhr UTC)
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Sturm: Johann St., Straßburgs großer Schulrector im 16. Jahrhundert und bedeutsam für die Gestaltung des ganzen althumanistischen Schulbetriebs in [22] Deutschland, ist am 1. October 1507 zu Schleiden im Eifelgebirge geboren und somit ein unmittelbarer Landsmann und Zeitgenosse des Historikers Sleidanus gewesen. Sein Vater war Rentmeister des in der Nähe ansässigen Grafen von Manderscheid; seine Mutter, eine geborene Hülsen (Hulsana), nennt er selbst eine femina lectissima. Gemeinschaftlich mit den gräflichen Söhnen von Johann Neuburg und anderen Lehrern unterrichtet, zeichnete er sich schon als Knabe durch aufgewecktes Wesen, fleißiges Lernen und sicheres Wissen aus, und so kam er denn auch mit den jungen Grafen 1522 (oder 1521) in die Schule der Hieronymianer nach Lüttich, wo er bis 1524 blieb. Dieser Aufenthalt hat großen Einfluß auf St. gehabt, nicht nur dadurch, daß hier die Grundlagen seines Wissens befestigt und erheblich erweitert wurden: auch die Schule selbst in ihrer ganzen Organisation und Einrichtung, vielleicht auch eine Krisis derselben, die er mit erlebte, war für ihn von großer Bedeutung; denn in ihr fand er für sein eigenes späteres Wirken Muster und Vorbild. Ueber diese Schule sind wir durch St. selbst unterrichtet, müssen aber freilich anerkennen, daß er in seinem „Rathschlag an die Schulherrn“ zu Straßburg (1538) ihr Bild seinen damaligen Absichten und Plänen entsprechend vielleicht etwas idealisirt hat; auf der anderen Seite aber läßt sich auch die Meinung, daß die Zwickauer Schule des in Lüttich gebildeten Plateanus ein getreues Abbild von ihr gewesen sei, nicht erweisen: wenn wir bei St. ein Zuviel finden sollten, so ist in dieser kleinen, auf wenige Lehrkräfte angewiesenen Schule ein Zurückbleiben hinter dem Lütticher Vorbild mindestens ebenso möglich. Jedenfalls aber war das Gymnasium Hieronymitanum zu Lüttich achtclassig, die Schüler innerhalb der Classen in Decurien eingetheilt; es wurde darin ein streng stufenmäßig aufgebauter Unterricht ertheilt, halbjährliche Prüfungen und eine strenge Versetzungsordnung sorgten für die nöthige Gleichmäßigkeit der Kenntnisse aller Schüler in einer Classe; das mittelalterliche Doctrinale des Alexander de Villa-Dei war aus dem Unterricht verbannt, die lateinische Grammatik wurde verhältnißmäßig rasch absolvirt und möglichst früh mit der Lectüre begonnen, die ausschließlich classische Autoren zum Gegenstand hatte; auch Griechisch wurde in den vier oberen Classen in erheblichem Umfang getrieben. Wir haben somit in der Lütticher Schule zu der Zeit, in der sie St. besuchte, eine hochentwickelte frühhumanistische Lehranstalt zu erkennen; und wenn man fragt, durch wen der Humanismus in dieser Aera zur Herrschaft an diesem Hieronymianer-Gymnasium gelangt sei, so müssen wir auf Rudolf Agricola hinweisen, der für den ganzen nordwestdeutschen Humanismus der wissenschaftliche und pädagogische Lehrer und Wortführer gewesen ist. Von ihm war dann vor allem Alexander Hegius in Deventer inspirirt, und diesem Einfluß unterstand auch die 1496 gegründete Lütticher Schule der Brüder vom gemeinsamen Leben; und als ihr Schüler unterstand ihm in den Jahren 1522 bis 1524 auch der junge St.: was er hier im Nordwesten kennen gelernt hat, das hat er später in Straßburg zu verwirklichen und in selbständiger Weise weiter zu entwickeln gesucht. Unter seinen Lütticher Lehrern nennt er den Arnold von Einaten mit besonderer Liebe und Anhänglichkeit.

Nachdem St. das Gymnasium absolvirt hatte, wandte er sich 1524 nach Löwen, wo er im Collegium Buslidianum, auch Collegium trilingue genannt, in der feineren und freieren Luft des Erasmischen Geistes sich bewegte und sich bei Rüdiger Reschius im Griechischen, vor allem aber unter der Leitung des Conrad Goclenius im Lateinischen weiterbildete; gerade der Einfluß des Letzteren dürfte in St. die Vorliebe für das Latein im allgemeinen und für lateinische Beredsamkeit insbesondere entschieden haben. Persönlich freilich stand er dem Ersteren näher; denn nachdem er seit 1527 selbst auch als Lehrer in Löwen thätig gewesen war und daneben angefangen hatte, Jus zu studiren, sah er sich [23] durch die Knappheit seiner Subsistenzmittel genöthigt, auf das Anerbieten seines Lehrers Reschius einzugehen und mit diesem eine sich in den Dienst des Humanismus stellende Druckerei zu gründen. Xenophon’s Memorabilien waren das erste von ihnen gedruckte Buch. Im Interesse des Geschäftes war es dann, daß St. 1529 Löwen verließ und nach Paris übersiedelte, um dort den Büchern des Verlags ein erweitertes Absatzgebiet zu schaffen. Allein der Gelehrte in ihm drängte gerade hier an der altberühmten Bildungsstätte den Buchhändler zurück: die Vorlesungen an dem von Franz I. kurz zuvor gegründeten Collège de France zogen ihn mächtig an: im Interesse einer zu druckenden Galen-Uebersetzung besuchte er eine Zeit lang medicinische Vorlesungen, und bald hielt er auch selbst welche als Privatdocent am Collège de France; aber nicht als Mediciner, sondern als Humanist las er mit rasch wachsendem Erfolg über Cicero und Demosthenes. In einem Colleg über Dialektik (Logik) hatte er unter seinen Zuhörern Petrus Ramus, der hier die erste Anregung zu seinem Versuch einer Umgestaltung der traditionellen Logik empfing. Nach seiner Verheirathung mit der humanistisch gebildeten Pariserin Johanna Ponderia (Pison?) richtete St. in seinem Hause ein Alumnat für junge Studenten ein, das ebenfalls großen Zulauf von auswärts hatte.

Bis dahin war St. ausschließlich Humanist gewesen. Da kamen ihm durch einen seiner Schüler, den Mediciner Carinus (Kiel) aus Luzern, theologische Schriften der neuen protestantischen Richtung in die Hände, vornehmlich solche von dem Straßburger Reformator Bucer, von dem er übrigens 1528 bei einer Reise nach Straßburg schon persönlich einen starken Eindruck empfangen hatte. Nun wurde derselbe durch die Lectüre seiner Schriften so verstärkt, daß sich St. entschloß, der neuen Lehre beizutreten. Und sogleich zeigt sich auch seine in Sachen des Protestantismus später noch oft zu Tage kommende sanguinische Ader und jener politische Trieb, der ihn nachmals zum freiwilligen Diplomaten werden ließ: er trat in persönlichen Verkehr mit Bucer und mit Melanchthon und verhandelte mit ihnen über nichts Geringeres als über den durch den Erzbischof von Paris, Cardinal Jean du Bellay, unterstützten Plan, den König Franz I. von Frankreich für den Protestantismus und die Protestanten zu gewinnen. Die deutschen Vertreter desselben aber waren klüger als er, und statt seiner Einladung nach Paris Folge zu leisten, mahnten sie, er solle Frankreich verlassen; Melanchthon dachte an eine Professur in Tübingen oder Augsburg für ihn. St. hielt noch eine Zeit lang an seinen Hoffnungen fest, mußte sich aber schließlich doch von ihrer Aussichtslosigkeit überzeugen und den aufs neue beginnenden Verfolgungen der Protestanten in Frankreich weichen; und so nahm er denn 1536 das Anerbieten Bucer’s an, nach Straßburg zu kommen und dort am Collegium Praedicatorum als Professor Vorlesungen über Rhetorik und Dialektik zu halten. Am 30. December verließ er Paris, am 14. Januar 1537 traf er in Straßburg ein und eröffnete im März seine Vorlesungen, die bald zu den besuchtesten und gefeiertsten gehörten, was auch aus der raschen Erhöhung seiner Besoldung von 40 auf 100, von 100 auf 140 Gulden hervorgeht; galt es ja außerdem, ihn vor lockenden Berufungen nach Basel und Wittenberg für Straßburg zu erhalten.

Seine Bedeutung aber lag nicht so sehr in diesen seinen akademischen Vorlesungen, als vielmehr auf einem anderen Gebiete. Bald nach seiner Ankunft erkannte man zu Straßburg in St. den rechten Mann, um die nothwendig gewordene Organisation des höheren Schulwesens in die Hand zu nehmen und im Verein mit den städtischen Behörden und der Geistlichkeit durchzuführen.

Auch in Straßburg hatte der humanistische Geist längst schon seinen Einzug gehalten; aber es war ein etwas rückständiger, noch nicht ganz zum Durchbruch gekommener Humanismus, der eben deswegen bei den Niederdeutschen nicht [24] für voll galt. Der Vertreter dieser älteren oberrheinischen Humanistengeneration in Straßburg war Jakob Wimpfeling gewesen, der in der Schule des Westfalen Dringenberg zu Schlettstadt zwar noch nach dem Doctrinale unterrichtet, aber doch mit dem römischen Alterthum bekannt gemacht und für dasselbe gewonnen worden war und nun in Straßburg der Führer der humanistischen Bewegung wurde und Männer wie den späteren Stettmeister Jakob St. darin unterrichtete und dafür zu begeistern wußte. Griechisch verstand er freilich noch keines, und aus Furcht vor dem heidnischen Geist der Alten empfahl er neben Virgil vor allem christliche Dichter zur Schullectüre. Wichtig aber ist hier insbesondere sein Vorschlag, den er in der „Germania“ von 1501 näher ausführte und begründete: die Stadt Straßburg möge ein Gymnasium errichten, das sich auf die bestehenden Lateinschulen aufbauen und eine Zwischenstufe zwischen diesen und der Universität bilden solle. Der Gedanke kam aber damals noch zu früh; und auch, als durch die Reformation naturgemäß die bestehenden Stifts- und Klosterschulen sich auflösten, griff der Magistrat, der nach Luther’s energischem Weckruf nun seinerseits durch Errichtung von Lehranstalten für die geistige Ausbildung seiner Jugend zu sorgen hatte, zuerst nur zögernd ein. Doch nahm er durch die Ernennung einer ständigen Commission von drei Schulherrn oder Scholarchen 1528 die Sache in die Hand und machte damit die Schule zu einer weltlichen Angelegenheit, in der vermittelnden Weise, daß auch der Geistlichkeit, durch Aufstellung zweier Prediger als Visitatoren, das Recht der Mitwirkung gewahrt blieb. Zuerst sorgten diese Schulherrn für lateinische Schulen, deren sie zwei, die eine unter Otto Brunfels, später unter Peter Dasypodius, die andere unter Johann Sapidus eröffneten; 1535 kam eine dritte unter Andreas Zechlius hinzu, an dessen Stelle bald Joh. Schwebel trat. Dann machten sie sich an die Regelung des besonders im Argen liegenden Volksunterrichts durch Aufstellung einer Ordnung der Lehrmeister (1534), und hiefür gab es schließlich sechs Knaben- und vier Mädchenlehrhäuser in den verschiedenen Quartieren der Stadt. Endlich hatten die Prediger schon früh (1523) angefangen, theologische Vorlesungen zu halten, und diese lectiones publicae bildeten die Grundlage einer Akademie mit theologischer und philosophischer Facultät; das Collegium praedicatorum sorgte als Internat für das Unterkommen der jungen Leute. So standen die Dinge auf dem Gebiet des Schulwesen zu Straßburg, als Johann St. im J. 1537 dort eintraf, zunächst als Professor der classischen Philologie für den zuletzt erwähnten höheren Unterricht. Alsbald aber erkannte man in ihm den geeigneten Mann, um auch das Mittelschulwesen, das vor allem an dem mangelnden Ineinandergreifen unter sich und mit der oberen Stufe litt, zu organisiren und zu concentriren: er erhielt am 26. Dec. 1537 von der Schulcommission den Auftrag, mit den zwei geistlichen Visitatoren die lateinischen Schulen zu besuchen. Auf Grund dieser Inspection erstattete er jenen schon erwähnten „Rathschlag an die Schulherrn“, der mit dem entscheidenden Wort anhebt: ludos literarum uno loco comprehendi utilius est quam varie distrahi. Unter Berufung auf die Schule von Lüttich, die er aus eigener Erfahrung kenne, schlägt er demgemäß die Vereinigung der bestehenden drei Lateinschulen zu einer einzigen sechsclassigen Gesammtanstalt vor, an die sich dann als Secunda der höhere Unterricht in den philosophischen Fächern, als Prima der theologische Cursus anzugliedern habe. Die Schulherrn, vor allem der hochgebildete und energische Jakob St. waren von vornherein für den Plan gewonnen; aber auch der Rath ließ sich dafür erwärmen und schon im März 1538 wurde beschlossen, im Prediger-(Dominicaner-)Kloster ein solches Gymnasium einzurichten. Nachdem auch auf die Aufbringung der nöthigen Mittel Bedacht genommen war, wurde im Juni das Rectorat der Anstalt Johann St. angeboten und von ihm zunächst widerruflich für ein Jahr angenommen. Und nun wurde [25] auch sofort ins Leben gerufen, was beschlossen war: auf Michaelis 1538 wurde die Schule provisorisch im Barfüßerkloster eröffnet, Ostern 1589 siedelte sie definitiv in das Predigerkloster über, wo sie – natürlich in neuen Gebäuden – heute noch ist. St. aber schrieb zur Rechtfertigung und Empfehlung seiner Gedanken das Einführungsprogramm „De literarum ludis recte aperiendis liber. Argentorati apud Vendelinum Rihelium Anno MDXXXVIII“.

Hier hatte sich aber inzwischen der im Rathschlag entwickelte Plan wesentlich erweitert, wofür sich St. merkwürdiger Weise auf den – noch gar nicht vorhandenen – „usus“ beruft. Nicht mehr sechs Classen, wie ursprünglich von ihm vorgesehen, sondern neun Classen werden zur Vorbereitung auf die lectiones publicae für nöthig erachtet und für diese selbst ein fünfjähriger Cursus in Aussicht genommen, so daß der Knabe, der mit sieben Jahren in die Schule eintritt, sie mit 16 absolvirt und mit 21 den philosophischen und theologischen Unterricht durchgemacht hat. Uebrigens sollte von den neun Classen die erste aus den Alphabetarii gebildet werden, welche in Lüttich und demnach auch im Rathschlag außer Acht geblieben waren, so daß in Wirklichkeit doch nur an die Stelle der sechsclassigen eine achtclassige Lateinschule trat, und die ursprüngliche Secunda und Prima in ein fünfjähriges Facultätsstudium umgewandelt wurde. So St. unter Berufung auf den usus; aber der wirkliche usus machte es nochmals anders: der Rath blieb zunächst bei den sechs ursprünglich vorgeschlagenen Classen, gestattete jedoch, daß die untersten zwei je zweijährig sein sollten; erst später sind daraus vier Classen geworden und ist jenes Ziel Sturm’s wirklich erreicht worden. Umgekehrt genügte die vorgesehene eine Classe für die Alphabetarii nicht; zunächst machte die große Schülerzahl eine Theilung in zwei Abtheilungen nothwendig, noch vor 1565 waren aber daraus zwei Jahrescurse, Decima und Nona, geworden, so daß es nun ein zehnclassiges Gymnasium bestehend aus einer freilich auch schon Latein lehrenden Vorschule von zwei und einer eigentlichen Lateinschule von acht Classen war, das in engstem Zusammenhang mit dem fünfjährigen Cursus der lectiones publicae stand. Die Einheit der ganzen dreigegliederten Anstalt aber kam zum Ausdruck in der gemeinsamen Leitung durch den einen Sturm, der Professor an dem oberen Cursus blieb und zugleich Rector des Ganzen war.

Die Zahl der Schüler in den sechs Gymnasialclassen betrug schon im Gründungsjahr 336, später stieg sie auf mehr als 600; in den Pestjahren freilich und auch in der für den Protestantismus so kritischen Zeit nach dem schmalkaldischen Kriege war sie erheblich geringer. Allein das Höchste sollte erst noch kommen. Was Jacob St. vergebens angestrebt hatte, ging 14 Jahre nach seinem Tode in Erfüllung. Angesichts des glänzenden Rufes der unter Johann Sturm’s Leitung stehenden Straßburger Lehranstalten erhob der Kaiser Maximilian II. Straßburg zu einer privilegirten Akademie, die lectiones publicae wurden dadurch als akademische anerkannt und dem Lehrkörper das Recht ertheilt, in der philosophischen Facultät Baccalaurei und Magistri zu ernennen. Am 1. Mai (darum noch heute als Stiftungstag auch der neuen Universität gefeiert) 1567 wurde die Akademie feierlich eingeweiht und eröffnet, zum Rector aber auf Lebenslang Johann St. ernannt, in der alten Weise, daß Akademie und Gymnasium als ein zusammengehöriges Ganze behandelt wurden und der Rector an die Spitze des aus den öffentlichen Professoren und den Classenpräceptoren vereinigten Lehrkörpers trat.

Wir machen hier eine Pause und fragen nach den pädagogischen Grundsätzen, die St. bei der Organisation und Direction dieser Lehranstalt leiteten und durch deren Verwirklichung das protestantische Gymnasium zu Straßburg das Muster und Vorbild für viele andere geworden ist, wie ja St. auch persönlich [26] vielfach um Rath und Mithülfe bei Neueinrichtung von Schulen und Aufstellung von Lehrplänen angegangen wurde. Es ist hier um so mehr der Ort dazu, als im J. 1565, ohne Zweifel mit Beziehung auf die eben im Werk befindliche Erhöhung der oberen Abtheilung zum Rang einer Akademie, seine „Epistolae classicae“ erschienen, in denen er den Lehrern der einzelnen Classen wie den Fachlehrern in den lectiones publicae ihre speciellen Aufgaben auseinandersetzt und damit auch jeder Classe und jedem Fach das Ziel bestimmt. Den Zweck des protestantisch humanistischen Jugendunterrichts im ganzen hatte er schon 1538 fixirt: propositum a nobis est, sapientem atque eloquentem pietatem finem esse studiorum. Man wird darin nur geschickt und knapp formulirt finden, worin der ganze deutsche Humanismus jener Zeit die Aufgabe des gelehrten Unterrichts gefunden hat: die pietas ist die protestantische, die sapientia die Sachkenntniß (cognitio rerum), die eloquentia die Herrschaft über das lateinische Wort.

Fragen wir aber, wie und durch welche Mittel dieses Ziel erreicht werden sollte, so gibt darauf die Einrichtung der Schule und geben vor allem die angestrebten und erreichten Classenziele im einzelnen die beste Antwort, weshalb wir es nicht umgehen können, dieselben kurz zu skizziren. Der usus hat allerdings manches anders gestaltet, als es St. geplant und gewünscht hatte, und hat namentlich seine anfänglich allzu hochfliegenden und überspannten Anforderungen rasch ermäßigt. Umgekehrt freilich wird man zugeben können, daß der von Engel mitgetheilte Lehrplan aus dem Jahre 1539 ein durch Anfangs- und Uebergangsschwierigkeiten besonders reducirter gewesen sein dürfte; und daher werden wir uns richtiger an spätere Lehrpläne und an Angaben wie die der epistolae classicae halten. In der Decima, die später noch einmal in zwei Abtheilungen, schwerlich in zwei Jahrgänge, zerlegt wurde, handelte es sich um Lesen und Schreiben lernen, zunächst des Deutschen am Katechismus, dann aber auch des Lateinischen; und auch in lateinischer Grammatik wird hier schon durch Declinations- und Conjugationsübungen der erste Grund gelegt; als Lehrbuch diente hiebei anfangs die lateinische Grammatik Melanchthon’s, später mußte diese der Educatio puerilis linguae latinae des Straßburger Präceptors Golius weichen. Und ebenso traten an die Stelle der anfänglich schon hier als Lesebuch benutzten Briefe Cicero’s späterhin die Neanisci Sturm’s, Colloquia, die sich zum Erwerb einer copia verborum besonders eigneten. Denn mit dem von St. aufs nachdrücklichste geforderten Auswendiglernen von Vocabeln wurde sofort begonnen; Veil hat die Zahl der in den sechs unteren Classen des Straßburger Gymnasiums eingeprägten Wörter auf 21 000 berechnet. Mit diesem lateinischen Elementarunterricht wird in derselben Weise, nur in rascherem Tempo und erweitertem Umfang in Nona fortgefahren. In Octava beginnt der eigentliche grammatische Unterricht und beginnt nun auch das lateinisch Sprechen, nachdem ein gewisser Wortschatz gewonnen und in die Diarien wie in Scheunen aufgenommen worden ist; auch die schriftliche Uebersetzung deutscher Sätze ins Lateinische ist für die zweite Hälfte des Jahres in Aussicht genommen. Von Cicero werden zwölf Briefe und ebenso einige Colloquia aus den Neanisci gelesen. In Septima wird mit all dem fortgefahren, die Hauptregeln der lateinischen Syntax werden gelernt und nun ganz energisch aus dem Deutschen ins Lateinische mündlich und schriftlich übersetzt; selbst der Katechismus wird dazu benutzt. Während nach dem liber de lit. stud. recte aper. mit der poetischen Lectüre (Virgil’s Eklogen) schon in der zweituntersten Classe begonnen werden sollte, wird damit thatsächlich vielmehr erst hier der Anfang gemacht und zwar mit den leichten Ethica Catonis, einer mittelalterlichen Spruchsammlung. In Sexta kommt die Syntax zum Abschluß; die Prosodie wird an der Hand einer poetischen Chrestomathie nach wesentlich rhetorischen Gesichtspunkten eingeübt, auch die Andria des Terenz gelesen; die Prosalectüre [27] bilden die längeren Briefe Cicero’s, daneben auch einige Briefe des Hieronymus – utiles propter religionem, doctrinam, elegantiam. Endlich setzt hier der griechische Unterricht ein, anfangs nach der Grammatik des Clenardus, später nach der ebenfalls von Golius, natürlich unter Sturm’s Auspicien gefertigten Educatio puerilis linguae Graecae. In Quinta wird die griechische Formenlehre beendigt und an äsopischen Fabeln eingeübt; das sonntägliche Evangelium wird aus dem griechischen Urtext ins Deutsche übersetzt. Im Lateinischen bleiben Stilübungen, Vermehrung der copia verborum, Lectüre Cicero’s, zu dessen Briefen sich nun auch der ursprünglich schon für die Octava in Aussicht genommene Laelius gesellt; die Gewandtheit im Sprechen wird durch die Lectüre eines weiteren Terenzischen Stückes erzielt, und zugleich wird daran und an den Eklogen des Virgil die Verslehre, die ein Hauptpensum der Classe bildet, eingeübt. Mit Quarta beginnt das Obergymnasium; ihr und Tertia fällt neben Versübungen und poetischer Lectüre vor allem der Anfang des eigentlich rhetorischen Unterrichts zu; daher bilden hier in erster Linie ciceronianische Reden den Gegenstand der Lectüre unter genauer Analyse nach rhetorischen Gesichtspunkten; und ebenso werden die stilistischen Uebungen der Classe in den Dienst derselben gestellt und zu dem Behuf z. B. Abschnitte aus Demosthenes ins Lateinische übertragen. Auch Declamationen, d. h. der Vortrag ganzer lateinischer Reden oder ganzer Gesänge der Aeneis werden hier schon veranstaltet. Im Griechischen wird die Grammatik absolvirt, Lucian, bald auch Isokrates oder Demosthenes und das goldene Gedicht der Pythagoreer gelesen und natürlich auch Abschnitte aus dem Neuen Testament. In Secunda und Prima bilden wiederum Reden Cicero’s den Mittelpunkt der lateinischen Lectüre; daneben wird auch Sallust genannt, aber immer bleibt Cicero unicum omnium literatorum exemplum; nicht einmal hat die Fülle der eingestreuten Reden dem Historiker Livius Aufnahme im Straßburger Gymnasium verschafft, Cäsar und Tacitus bleiben ohnedies ausgeschlossen. Da es sich aber hier um die ornata elocutio handelt, nachdem in den vorhergehenden Classen eine pura et dilucida elocutio erzielt worden sein sollte, so wurde nun auch theoretischer Unterricht in der Rhetorik und in der mit ihr zusammenhängenden Dialektik ertheilt, jener wesentlich im Anschluß an Cicero’s partitiones oratoriae, nach einem von St. in dialogischer Form dazu verfaßten kleinen Commentar. Im Griechischen lag der Nachdruck ebenfalls auf dem rhetorischen Element, und so wurde möglichst viel von Demosthenes gelesen, Xenophon’s Cyropädie, Platonische Dialoge oder gar Thukydides höchstens ausnahmsweise. Auch bei Homer dachte man wesentlich an seine rhetorischen Vorzüge, und solche ließen auch nach dem einen oder andern Stück von Euripides greifen; einiges Lyrische und die übliche neutestamentliche Lectüre kam hinzu.

Uebersehen wir nun an der Hand dieses in aller Kürze skizzirten Unterrichtsganges im Sturm’schen Gymnasium den Weg zu dem schon angegebenen Ziele, so mag der Religionsunterricht (pietas) eben noch als genügend bezeichnet werden. Er tritt in keiner Weise hervor und überschreitet nirgends das in humanistischer Zeit dafür bestimmte Durchschnittsmaaß; und so kann ich nicht zugeben, daß in der Anstalt Sturm’s „auf den religiösen Unterricht großes Gewicht gelegt“ worden sei; eher könnte man sagen, daß auch er rasch genug dem sprachlichen Unterricht dienstbar werden mußte. Ein tiefes Gefühl für die religiöse Seite der Erziehung, wie wir z. B. bei Trotzendorf einem solchen begegnen, vermag ich bei St. nicht zu entdecken. Dagegen betont er im liber de stud. lit. r. ap. ebenso wie in den Epp. classicae neben dem Unterricht stets auch die erziehliche Aufgabe der Schule; und daß im Straßburger Gymnasium mit allem Nachdruck auf Disciplin und gute Sitten unter den Schülern gehalten wurde, ist mehrfach bezeugt und geht aus Aeußerungen Sturm’s selbst deutlich hervor. Namentlich [28] wurde hiebei auch das Verhältniß zwischen Schule und Haus von St. ins Auge gefaßt und ein einmüthiges Zusammenarbeiten der beiden Factoren gefordert; doch redet er gelegentlich auch davon, daß die Knaben rudes a moribus zur Schule kommen und hier erst disciplinam virtutum primam accipiant. Auch die Eintheilung der Classen in Decurien unter einem sie beaufsichtigenden Decurio hatte ebenso für die Schulzucht wie für den Unterricht, namentlich für die Erwerbung der copia verborum, Geltung und Verwendung. Daß St. das Mittel, welches manche Humanisten, Trotzendorf so gut wie später die Jesuiten, im Uebermaaß anwandten, die Weckung des Ehrgeizes bei den Jungen, nicht verschmäht hat, versteht sich von selbst. Aber wenn es, neben den für alle Classen ausgesetzten kleinen Geldprämien, nur an einer Stelle intensiver in die Erscheinung tritt, bei den mit allerlei Feierlichkeiten umgebenen Classenversetzungen, so ist das eine durchaus verständige, in den Rahmen des ganzen Schulorganismus passend sich einfügende Verwerthung dieses an sich durchaus sittlichen Motives und geht nicht hinaus über sonstige reichsstädtische und eben darum leicht etwas kleinstädtische Gepflogenheiten.

Wie stand es nun aber zum zweiten mit der eloquentia? Natürlich war es ausschließlich die lateinische Beredsamkeit, die man im Sturmischen Gymnasium erwerben konnte. Man hat es St. verdenken wollen, daß er nicht an Stelle oder doch neben dem Lateinischen das Deutsche in seinem Unterrichtsplan berücksichtigt habe. Allein bei einem solchen Vorwurf übersieht man vollständig die Zeit und ihre Bedürfnisse. Latein war die durchgängige Gelehrten-, es war auch die Diplomatensprache der Zeit, das officielle und allgemeine internationale Verständigungsmittel aller Gebildeten: wer daher in der Welt – sei es als Mann der Wissenschaft oder im Staat – etwas leisten wollte, mußte des lateinischen Wortes Herr sein. Und so hatte St. mit seiner ausschließlichen Betonung der lateinischen eloquentia Recht, weil er darin durchaus nur der Sohn seiner Zeit war. Eben deshalb sind aber auch alle Versuche, bei ihm „Begeisterung für die deutsche Sprache“ nachzuweisen, ebenso überflüssig wie sie vergeblich sind: ein anerkennendes Wort über Luther’s Bibelübersetzung genügt hiefür nicht, und die Thatsache, daß im Sturm’schen Gymnasium das Deutsche keine Pflege und besondere Stelle fand, wird dadurch nicht umgestoßen. So früh als möglich wird der Unterricht lateinisch ertheilt (schon in Octava), selbst das Uebersetzen der Classiker ins Deutsche vielfach durch lateinische Umschreibung des Textes ersetzt, in Septima der Katechismus ins Lateinische übertragen und den Schülern das Deutschreden unter einander auch außerhalb der Schule unter Strafe verboten: „Die teutsch reden bey in mitschulern, die sollen geschotten werden; so sy dtz offtermals thun, sollen sy dest mehr gestrafft werdenn“.

Wenn wir aber auch das alles aus den Anschauungen und Bedürfnissen der Zeit heraus erklärlich finden, so liegt doch schon in diesem Punkte nach zwei Seiten hin eine Schwäche der Sturm’schen Pädagogik, ein Abweichen von und ein Hinausgehen über die Ansichten von Männern wie R. Agricola, Erasmus und Melanchthon, und daher hier auch ein berechtigter Anlaß zu Kritik und Angriff. Im Gegensatz zu Melanchthon z. B. glaubt St. und strebt es an, daß die deutschen Schüler vollkommene Lateiner werden können und sollen, die mit Cicero zu wetteifern im Stande seien. Eben deshalb sieht er geradezu eine Landescalamität darin – publicum et commune malum! –, daß nicht alles lateinisch redet und die Kinder nicht von früh an lateinisch hören, stammeln, sprechen, nicht mehr in cunis ad matrum papillas lallare condocefiunt; und daher ist es Aufgabe der Schule und der Lehrer, istud malum corrigere industria. Während Melanchthon zugibt, daß wir die perfecta eloquentia eines Cicero nie erreichen können, cum sonus linguae latinae hoc tempore non sit nativus, versichert [29] St. in Stunden des Selbstgefühls, daß „wir im Schreiben, Commentiren, Declamiren und Reden unsern Meistern nicht bloß folgen, sondern es sogar den besten Zeiten Athens und Roms gleichthun können“. Wer sieht nicht, daß er damit das Ziel überspannt, Unmögliches erstrebt und gehofft hat? Und wenn er dann doch zuweilen die Unmöglichkeit solchen Gleichthuns erkennt und zugesteht, so macht es geradezu einen tragischen Eindruck, zu sehen, wie hier ein großer Aufwand an eine unerreichbare Aufgabe verthan und die Unfruchtbarkeit einer ganzen Lebensarbeit in lichten Augenblicken selbst bemerkt und beklagt wurde.

Es hängt dies aber bereits mit dem Anderen zusammen, das zur Kritik herausfordert, daß St. den Ton nicht auf das Lateinische überhaupt, sondern auf die lateinische Beredsamkeit im Sinne der antiken Rhetorik legte. Daher wird der gesammte Unterricht diesen rhetorischen Gesichtspunkten untergeordnet und unterstellt, die Sturm’sche Schule ist eine Rhetorenschule im Sinne Quintilian’s; und daher ist im Gegensatz zu Erasmus, der die einseitigen Ciceronianer verhöhnt und dem St. in der Theorie beistimmt, doch Cicero in der Praxis der Autor der Schule, schon in Decima wird mit ihm begonnen, und in Prima ist man mit ihm noch nicht fertig. Um jenes Zweckes willen werden die Historiker aus der Schule so gut wie ganz ausgeschlossen. Und auch an den Griechen lernt man nur Rhetorik: selbst Homer wird um rhetorischer Vorzüge willen gelesen, puritas, ornatus, gravitas rühmt er ihm nach und versichert: amoena habet rhetorum vestigia: credo ego omnia oratorum ornamenta et instituta in Homero demonstrari posse ita ut si ars dicendi nulla extaret, ex hoc tamen fonte derivari et constitui posset. Auch hier hat Melanchthon anders gedacht und ein feineres Verständniß gezeigt, wenn er sagt: qui ita evolvunt Homerum, ut nihil hinc nisi voluptatem venentur et sententiolas quasdam ceu flosculos hinc inde collectos, hi perinde faciunt, ut siquis fertilissimum agrum tantum animi causa colat, ut floribus in eonatis aliquando se coronet, fructuum, quos inde uberrimos percipere poterat, curam plane negligat, hunc aliquis recte opinor oeconomum parum prudentem dixerit.

Das wichtigste und energischste Mittel aber zur Erreichung des vorgesetzten Zieles war die imitatio, der Begriff, in dem vor allem der Zweck der lateinischen Stilübungen des Straßburger Gymnasiums sich zusammenfaßt: die Schüler sollen, wir wissen es schon, reden und schreiben lernen, wie Cicero gesprochen und geschrieben hat, und deshalb müssen sie ihn von früh an „nachahmen“. Für diese Nachahmung hat St. eine eigene Theorie aufgestellt und hat sie zum A und O seiner Schulpraxis gemacht: vor allem sind die Diarien der Schüler darauf hin zu führen und einzurichten, aber auch die schriftlichen Arbeiten und die schon erwähnten Declamationen dienen demselben Zweck. Bekanntlich hat Raumer diese Forderung und Lehre der imitatio „eine Art Theorie der Dohlenstreiche“ genannt, weil es sich dabei nur darum handle, Phrasen Cicero’s durch geringe Variation unkenntlich zu machen und sie dann als eigenes Product schriftlich oder mündlich anzubringen und einzuschmuggeln. Zu diesem Vorwurf geben Aeußerungen Sturm’s selbst direct Anlaß und Berechtigung, so wenn er schreibt: oportet imitatorem esse ζηλόϰλεπτον, oportet ϰλέπτειν, furari, furem esse ζήλου i.e. imitationis, sed ita tamen ut ipsum furtum non appareat, ne ipsa scilicet cornicula in furto deprehendatur et risum moveat et suis notetur coloribus. Nun kennt St. allerdings auch eine richtigere und bessere, eine freie Form der imitatio, vera imitandi ratio, quae libertatis suae utitur iure et eloquentiae omnibus nititur privilegiis. Aber in der Praxis der Schule konnte es sich um diese Art nicht handeln; denn wem wurde sie zugemuthet? Knaben, denen die zu einer solchen höhern imitatio nöthige Freiheit des Geistes abging; und so sagt St. selbst: volumus imitationem tempore disciplinae esse diligentem et [30] accuratam et assiduam, volumus etiam esse anxiam et sollicitam et quodammodo servilem, volumus imitatorem hoc tempore esse non liberum, non solutum, sed vinculis adstrictum imitationis. Und daß es auch bei so vorbereiteten Studenten auf der Akademie noch nicht anders war und ging, bezeugt Leonhardt Hertel, der vom Präceptor zum Professor der Dialektik aufgestiegen war und als solcher die Declamationsübungen der Studenten zu leiten hatte, in einem Brief an St.: orationem refercimus furtis et compilationibus, non secus ac corvus ille Aesopicus qui speciosarum avium plumis sese depictum ostentabat. Also an Schule und Akademie wirklich die Praxis und Theorie der Dohlenstreiche!

Zu den lateinischen Uebungen der Zeit gehört noch eines – die Aufführung lateinischer Dramen. Bis in die sechziger Jahre kamen solche Aufführungen am Straßburger Gymnasium nur vereinzelt vor. Dagegen finden wir in den epistolae classicae vom Jahre 1565 die Forderung, daß alle Komödien des Plautus und Terenz von den Schülern der vier oberen Classen aufgeführt werden sollen und zwar so, daß je eine Decurie (St. nennt hier 20) ein Stück für sich übernehme; in Secunda und Prima empfiehlt es sich auch eine Komödie des Aristophanes und eine Tragödie des Euripides oder Sophokles hinzuzufügen. Es ist eine ansprechende Vermuthung Crüger’s, daß der eigentliche Urheber dieser Neuerung der Theologe Marbach gewesen sei, der die Aufführung moderner Stücke mit religiösen Stoffen im Dienste der ecclesia militans veranlaßt habe; St. sei darauf eingegangen, habe aber an Stelle moderner Stücke antik classische, erst lateinische, später mit Vorliebe auch griechische aufführen lassen, und zwar im Dienst der eloquentia, damit die Schüler dabei lateinisch reden, und überhaupt reden lernen: der Schauspieler sollte dem Redner die Zunge lösen. Wie das betrieben wurde, zeigen die Worte Sturm’s im Brief an den Ordinarius der Secunda: tuos histriones exercitationem in theatrum quotidianum adferre oportet maiorem; und daher ist es kein Wunder, daß auch unter den Schülern die Neigung zu solchen Aufführungen immer mehr zunahm, und da auch die Akademiker an ihr festhielten und sich ihr natürlich freier hingeben konnten, so wuchs die Schulkomödie allmählich über die Schule hinaus und emancipirte sich von pädagogischen Gesichtspunkten: noch unter St. bildete sich eine Genossenschaft von spielenden Schülern in Straßburg, die nun also wirklich zu histriones werden, und wurde der Bau eines steinernen Theaters beschlossen. So lösten sich in rascher Folge die Zwecke ab – erst der eines gelegentlichen Festspiels, dann der theologische, darauf der pädagogische und schließlich der schauspielerische selbst. Aber auch der dritte von St. ausschließlich eingenommene Standpunkt war nicht ohne Bedenken. Ein Zeitgenosse und College Sturm’s, Hieronymus Wolf, Rector der St. Annenschule zu Augsburg, meinte, vielleicht unter Bezugnahme auf die schauspielreiche Aera des Straßburger Gymnasiums: „die Erfahrung lehre, daß die Knaben darüber die andern Studien vernachlässigen“; und in Straßburg selbst mahnten bald genug Geistlichkeit und Rath zur Mäßigung. Ja St. selbst erwähnt, daß manche diese Aufführungen mißbilligen wegen des sittlich gefährlichen und bedenklichen Inhalts der plautinischen und terenzischen Stücke. Wenn er trotzdem daran festhielt, so sieht man auch hieraus, daß ihm, wie freilich vielen andern Humanisten, die Form über den Inhalt ging, und der Zweck der rhetorischen Ausbildung die sittlichen und pädagogischen Bedenken einfach zum Schweigen verwies.

Wie stand es endlich mit dem Dritten der von St. dem Unterricht gestellten Aufgaben, der sapientia oder wie Erasmus es formulirt hat, der cognitio rerum? Es entsprach der Anschauung der humanistischen Zeit, und im wesentlichen auch dem damaligen Stand der Wissenschaft, daß man alle Weisheit und Sachkenntniß aus den Alten schöpfen zu können glaubte, und so hat z. B. auch Melanchthon [31] in ihnen eine Fundgrube alles realen Wissens gesehen und deshalb ihre Lectüre nicht bloß wegen der sprachlichen Schulung, sondern gerade auch um der daraus zu gewinnenden sachlichen Kenntnisse willen für nothwendig gehalten. St. dagegen hat die lateinische und griechische Lectüre ausschließlich in den Dienst der Rhetorik, also unter den rein formalistischen Gesichtspunkt gestellt und sich um die cognitio rerum dabei zunächst gar nicht gekümmert, weshalb er es ausdrücklich als Princip aufstellt, ut ad ororationis divisionem etiam ordinum distributionem accommodemus. Sollte also in seiner Anstalt die sapientia doch irgendwie zu ihrem Recht kommen, so hätten neben den sprachlichen Lectionen, in denen es sich lediglich um die Form und Technik der Rede handelte, für sie besondere realistische Unterrichtsstunden angesetzt werden müssen. War das der Fall? Im liber de ludis lit. r. aperiendis nennt St. solche Fächer im Pensum der Prima: tradenda etiam Arithmetica sunt et excutiendus Mela (Geographie) et proponendus Proclus (Astronomie) et cognoscenda sunt Astrologiae elementa. Allein in Praxis ist bis 1566 von alledem nichts getrieben worden, in dem 9–10jährigen Cursus haben die Schüler des Straßburger Gymnasiums nicht einmal rechnen gelernt. Man hat das entschuldigen wollen, indem man behauptete, daß es in den andern Lateinschulen jener Zeit auch nicht anders gehalten worden sei und daß namentlich das letztere mit dem unentwickelten Stand des Rechenunterrichts im 16. Jahrhundert überhaupt zusammenhänge. Gerade dies aber läßt sich seit S. Günther’s Werk über den mathematischen Unterricht im Mittelalter (Monum. Germ. Paedagog. Bd. III) nicht mehr aufrecht halten, und das erste ist ebenfalls nicht richtig: in den württembergischen Klosterschulen findet sich auf dem Lehrplan von 1559 Arithmetik und lectio sphaerica; und derjenige des Gandersheimer Pädagogiums von 1571 sieht für alle drei Classen Arithmetik und für eine Classe exercitia supputandi vor; im Wolfischen Gymnasium zu Augsburg war Arithmetik wenigstens facultativ; für Geschichte hat Michael Neander in Ilfeld bestimmt, daß man sie zwei Jahre lang, an verschiedenen Tagen und Stunden, proponiren und enarriren solle; und für die Geographie, die er mit der Chronologie zusammen die zwei herrlichen Augen der Weltgeschichte nennt, hat er ein längeres und ein kürzeres Lehrbuch selbst geschrieben. In Straßburg aber kamen erst bei Errichtung der Akademie (1566) für die zwei obersten Classen die bis dahin völlig vernachlässigten Fächer Arithmetik, Geometrie, Astronomie und mathematische Geographie zur Aufnahme in den Unterricht, wie Veil vermuthet, „damit die Schüler sofort, nachdem sie an Ostern die Prima absolvirt und Publici geworden, sich der im Mai stattfindenden Baccalaureatsprüfung unterwerfen konnten, welche sich auch auf die Elemente der Mathematik bezog“. So wäre es also erst der Zwang der Berechtigungen gewesen, der St. 1566 bewog, den realistischen Fächern die Eingangsthüre in seine Schule zu öffnen, obwohl er – darin liegt dann doch wohl eher ein Vorwurf als ein Lob – schon 1538 anerkannt hatte, daß auch sie zum Unterricht der Jugend nützlich oder nothwendig seien. Aber dem Moloch des Lateinischen wurde eben alles, auch das Nothwendige geopfert.

Uebersieht man die Sturmische Pädagogik in Theorie und Praxis, so wird man zwar im allgemeinen zugeben können, daß ihre Betonung der Rhetorik und der sprachlichen Form einer gemeinsamen Auffassung des Humanismus entsprochen habe; aber man wird doch Laas Recht geben müssen, wenn er St. in der Einseitigkeit und Ueberspannung dieses rhetorischen Formalismus in einen gewissen Gegensatz bringt zu den hervorragendsten Geistern des älteren deutschen Humanismus, zu Rudolf Agricola, zu Erasmus, zu Melanchthon, und, dürfen wir hinzufügen, auch zu dem ihm wohlbekannten Ludwig Vives. Auf der schiefen Ebene von der Höhe dieser Meister herab zu dem virtuosen Epigonenthum eines Frischlin steht Johann Sturm diesem schon bedenklich nahe. Freilich darf man Eines [32] nicht vergessen: die freiere und inhaltsvollere Auffassung jener vorwiegend wissenschaftlich gerichteten Geister mußte sich in der Praxis der Schule nothwendiger Weise verengen. Der Schulbetrieb hat an sich etwas Pedantisches und Formalistisches, dem Schulstaub mischt sich leicht etwas vom Mehlthau bei, der feine Geistesblüthen zum Abdorren bringt. Allein wenn wir das auch zu seinen Gunsten in die Wagschale legen, so ist St. hierin doch über das Maaß des Unvermeidlichen und Erlaubten erheblich hinausgegangen, sein eigener Geist hatte etwas specifisch Formalistisches und darum Unfruchtbares an sich; in der Freude des Virtuosen an dem rein formalen Können übersah er daher die Hauptsache, den Inhalt und den Geist, und auf diese Weise ist durch sein Eingreifen der Humanismus in der Schule und der Schulbetrieb des Humanismus über seine ursprüngliche Meinung hinaus formalistisch verengt worden.

Mit der Schule meine ich nicht nur die Straßburger Schule Sturm’s, sondern den Schulbetrieb der deutschen Gymnasien überhaupt, weil der Einfluß Sturm’s auf ihn, theils direct, theils indirect, überhaupt ein großer gewesen ist. Sein Ruf verbreitete sich rasch über die engen Grenzen seines nächsten Wirkungskreises hinaus, und bald galt er als der erste humanistische Pädagoge, und so berief man seine Schüler mit Vorliebe als Lehrer und Rectoren nach auswärts, damit sie in seinem Geist unterrichten und Schulen einrichten sollten; und ihn selbst zog man zu Rathe, wo es galt eine Schule neu zu gründen, wie z. B. in Lauingen, wohin er 1565 von dem bairischen Herzog Wolfgang berufen wurde und wo er ganz nach dem Muster seiner Straßburger Schule verfuhr: est enim Lauingana eadem cum nostra ratio atque via. Am wichtigsten aber war die Einwirkung, die er auf die Abfassung der württembergischen Schulordnung von 1559 ausübte, obwohl wir freilich nicht wissen, in welcher Weise und durch wen, da die Betheiligung seines Schülers Toxites daran sich im einzelnen nicht feststellen läßt; und daß gewisse Uebertreibungen und Unterlassungen Sturm’s in derselben glücklich beseitigt und vermieden waren, ist gelegentlich schon bemerkt worden. Durch diese württembergische Schulordnung drang dann sein Geist in alle nach ihrem Muster gestalteten Schulordnungen ein, so besonders in die braunschweigische von 1569 und in die kursächsische von 1580; und so wurde St. in der That vielfach maßgebend für das protestantische Schulwesen in ganz Deutschland. Und vielleicht nicht nur für das protestantische. Denn trotz Pachtler’s Widerspruch (Monum. Germ. Paedagog. Bd. V, S. VI) bleibt die Möglichkeit einer Beeinflussung des jesuitischen Humanismus durch St. bestehen, und ist mir eine solche immerhin sehr wahrscheinlich. Dabei ist es bezeichnend für Sturm’s formalistische Auffassung menschlicher Dinge, wie günstig er über die Schulen der Jesuiten urtheilte, die er vermuthlich doch aus persönlicher Anschauung in dem nicht weit von Lauingen gelegenen Dillingen näher kannte; wenigstens nennt er diese beiden bairischen Anstalten ausdrücklich zusammen und wie einer, der mit eigenen Augen gesehen hat. Laetor ego hoc instituto, heißt es also hier von den Jesuiten, duabus de causis, quarum una est quod nos iuvant et bonas literas colunt; quarum nos perstudiosi et percupidi sumus. Vidi enim, quos scriptores explicent et quas habeant exercitationes et quam rationem in docendo teneant: quae a nostris praeceptis institutisque usque adeo proxime abest, ut a nostris fontibus derivata esse videatur. Itaque non magis nobis et nostrae religioni obfuturi sunt, quam … aliique multi docti sane homines minimeque mali viri … Altera causa est, quod cogunt nos maius suscipere studium et vigilantiam, ne illi quam nos diligentiores esse videantur et plures eruditos atque litteratos efficere quam nos efficiamus. Später hat er seine günstige Meinung freilich erheblich eingeschränkt; aber daß er 1565 so urtheilen konnte, beweist doch, daß er immer erst auf die [33] Form sah, und deshalb konnte er glauben, daß trotz des verschiedenen Geistes die Resultate dieselben sein werden, da ja die Lehrpläne einander ähnlich sahen. Und richtig war freilich, daß umgekehrt ein so formalistischer Betrieb des Humanismus wie der seinige, der um den Geist des Alterthums sich so wenig kümmerte, schließlich auch den Jesuiten gefallen konnte, weshalb sie die Sturmische Pädagogik in ihre Schulen herübernehmen mochten: es war ein für gar verschiedenartigen Inhalt brauchbares Gefäß.

Man hat sich gewöhnt zu sagen: wenn das Sturm’sche Ziel das richtige gewesen wäre, so hätte es keine bessere Methode gegeben als die seinige, um dieses Ziel auch wirklich zu erreichen; und Folgerichtigkeit ist daher die Eigenschaft, die der Sturm’schen Pädagogik von Gegnern und Verehrern zugestanden zu werden pflegt. In gewissem Sinn ist das richtig, die auf das eine Ziel hin sich spannende Concentration ist musterhaft durchgeführt. Andererseits – die Schüler des Sturm’schen Gymnasiums sind doch keine Cicero und keine Demosthenes geworden: das ließ sich zum voraus erwarten, und das bezeugen verschiedene Aeußerungen auch von St. selbst. Und das macht ja eben jenen tragischen Eindruck, daß wir in dem Mann die Erkenntniß zum Durchbruch kommen sehen, das Ziel, dem er sein Leben lang nachgejagt, sei ein unerreichbares, das, woran er seine ganze Kraft gesetzt, sei im Grunde doch verfehlt. Aber auch hinsichtlich des eingeschlagenen Weges wird man wenigstens fragen dürfen, ob man nicht mit einer geistigeren und interessanteren Art des sprachlichen Unterrichts auch in seinem Sinn mehr erreicht hätte; das Concentriren allein thut es eben nicht; variatio delectat ist eine auf richtiger psychologischer Beobachtung ruhende Regel, und sie hat St. völlig außer Acht gelassen. Doch seine Zeit urtheilte anders; der Ruhm des Straßburger Gymnasiums war ein weit verbreiteter und knüpfte sich an Sturm’s Person und Namen. Gleichwohl bleiben aber auch hier noch Bedenken und Fragen – über die persönliche Betheiligung Sturm’s an dem Gedeihen seiner Anstalt. Schon die epistolae classicae von 1565 geben zu solchen Zweifeln Anlaß, wenn man hört, wie bis herab auf die Zeit kurz vor ihrer Abfassung, also während eines mehr als 27jährigen Bestehens der Schule, manches nicht geschehen war, was von einem guten Schulrector sonst fraglos erwartet wird. Wenn er sagt: per omnes classes progredi cogito, ut non solum scriptor sed etiam actor esse videar, so sieht das aus wie eine Neuerung; und Marbach gegenüber rühmt er sich ausdrücklich, in nona curia ego et mei et rationis huius periculum feci, und hofft nun: multo plura assequemur quam superioribus annis. War ja sogar die Methode, wie die Schüler zu einer copia verborum gelangen sollten, zwar a me iudicata ante annos viginti septem, sed ut video [vermuthlich eben bei dem persönlichen Besuch der 9. Classe] non intellecta; nunc vero et intelligi illam volo et tradi et exerceri et in scholis, si meum consilium sequantur homines, retineri. Es hängt das zunächst damit zusammen, daß er selber überhaupt keine Stunden am Gymnasium gab, wie das ja schon im „Rathschlag“ für den Rector vorgesehen war, ut plus habeat auctoritatis illud officium: er war der über dem Ganzen schwebende leitende Geist, der die Ideen gab und ihre Ausführung durch die Classenpräceptoren überwachte, auch die Anstalt nach außen hin repräsentirte. Aber auch im Lehrercollegium stimmte nicht alles: das Zugeständniß, das er dem Präceptor der neunten Classe macht, und das Versprechen, das er ihm gibt: fateor sane in superioribus te curiis utilem et idoneum esse posse, et aliquando ex illis tibi aliqua committetur, breve fortassis, weist auf gewisse Schwierigkeiten hin, auf die er, wie so mancher Schulrector noch heute, bei Vertheilung der Fächer und Classen gestoßen sein dürfte. Und wundern würden wir uns nicht, wenn seine Präceptoren über den Unfehlbarkeitsdünkel ihres Rectors im Stillen die Köpfe schüttelten, der erklärte: [34] eandem rationem quam de principio institui retinendam in huiusmodi sive gymnasiis sive academiis arbitror; non enim meliorem invenire possum neque ut ego puto melior inveniri poterit. Wenn er aber hinzufügt: si recte intelligatur et idoneos sit assecuta magistros, quos adhuc paucos habuit, so klingt das wie eine Unzufriedenheit seinerseits. Auf der andern Seite aber lag wohl gerade darin das Geheimniß des Gelingens und Gedeihens der Anstalt, daß er nicht nur den für einen Schulrector nothwendigen pädagogischen Tact besaß, was viele seine Bemerkungen fraglos erweisen, sondern auch die jedem Herrscher unentbehrliche Gabe, die Geister zu unterscheiden. Daß er die richtigen Männer an den richtigen Platz gestellt hat, gilt wenigstens sicher von der Mehrzahl seiner Lehrer und geht auch aus der feinen Individualisirung hervor, die wir in dem Ton der verschiedenen epistolae an sie deutlich wahrnehmen: es ist nicht bloß persönliche Sympathie und Antipathie, sondern vor allem eine verschiedenartige Werthung der Einzelnen nach Gaben und Leistungen, was darin an- und durchklingt.

Es war aber um so nothwendiger, daß er sich auf seine Lehrer und ihre selbständige Arbeit verlassen konnte, da er persönlich vielfach anderweitig in Anspruch genommen war. Daß ein Gymnasialrector nebenbei auch Universitätsprofessor ist, war zu allen Zeiten möglich und damals um so unbedenklicher, als der Unterrichtsbetrieb der classischen Philologie an der Universität oder Akademie den an Secunda und Prima des Gymnasiums so gar weit nicht überragte. Was St. hier leistete, zeigt uns sein aus Vorlesungen hervorgegangenes Lehrbuch über Rhetorik. Diese Vorlesungen waren gut besucht und weit berühmt, und wir Heutigen dürfen ihm keinen Vorwurf daraus machen, daß er darin mit erschreckender Breite auf alle Subtilitäten und Feinheiten der antiken Technik einging. Das von Sigwart veröffentlichte Collegium logicum des Tübinger Professors Jakob Schegk hat uns noch neuerdings belehrt, daß wir den Universitätsunterricht des 16. Jahrhunderts nicht mit unserem Maßstab des Erlaubten auf seine Breite und Langeweile hin messen dürfen, und daß die Ansprüche an die Geduld der Studenten damals erheblich größere gewesen sein müssen als heute. Wenn wir Sturm’s Werk „de universa ratione elocutionis rhetoricae“ ansehen, so werden wir sagen können: wie Schegk über Logik, so las St. über Rhetorik, und beide scheinen den Anforderungen ihrer Zeit entsprochen zu haben. Daß übrigens St. zwischen dem Professor und dem Präceptor zu unterscheiden wußte, zeigen im Gegensatz zu seinem voluminösen Werke die für die Schule bestimmten kleineren und leichteren Lehrbücher, die schon genannten „in partitiones oratorias Ciceronis dialogi quatuor“ und die „partitionum dialecticarum libri quatuor“, welch letztere ich freilich nicht so ohne weiteres mit Veil als „trefflich“ bezeichnen möchte: Vieles darin geht weit über die Fassungskraft eines Primaners hinaus und konnte die jungen Leute unmöglich interessiren. Im übrigen aber treten, um hierüber Bursian (Geschichte der classischen Philologie in Deutschland, S. 202 f.) als Fachmann reden zu lassen, „seine wissenschaftlichen philologischen Leistungen hinter den pädagogischen entschieden in den Hintergrund; doch sind seine Verdienste um die Erkenntniß und Würdigung der rednerischen Kunst der Alten nicht gering anzuschlagen“; dagegen sind „ohne wissenschaftliche Bedeutung die auf das Bedürfniß der Schule berechneten Ausgaben verschiedener Schriften des Cicero, des Aristoteles“ u. a.

Noch ein ganz anderes aber ist es, was zu Bedenken Anlaß gibt und worunter Schule und Akademie gleichmäßig gelitten haben dürften. St. war nicht nur Rector und Professor, er war auch Diplomat. In welchem Umfang, das zeigen die Mittheilungen von Ch. Schmidt über seine Reisen im Dienste der protestantischen Sache. St. hatte etwas vom Kosmopoliten, auch darin unterscheidet er sich von den ältern Humanisten Straßburgs (man denke an Wimpfeling’s [35] Germania) und vom deutschen Humanismus überhaupt; und so hielt er sich für besonders geeignet und berufen, politische und kirchliche Gegensätze zu vermitteln und zu dem Behuf in aller Welt mit Fürsten und Staatsmännern Beziehungen anzuknüpfen. Namentlich bemühte er sich lange Jahre zwischen Frankreich und den deutschen Protestanten Freundschaft und Bündniß zu stiften und sorgte durch seine weitverzweigten Verbindungen für Informationen hin und her. Daß er sich daneben auch eine Zeit lang mit dem Kaiser eingelassen und ihm durch Granvella politische Nachrichten hat zugehen lassen, stellt freilich die Zuverlässigkeit Sturm’s in ein wenig günstiges Licht. Ob seine Nobilitirung durch den Kaiser im J. 1555 mit solchen Dienstleistungen zusammenhängt, weiß ich nicht. Ebenso nahm er auch an einer Reihe von Religionsgesprächen und Verhandlungen der 40er Jahre theil, die Katholiken und Protestanten, Lutheraner und Reformirte einigen sollten. Freilich wissen wir mehr nur von seinem Mitdabeigewesensein, als daß wir im einzelnen angeben könnten, worin sein persönlicher Antheil an diesen Dingen bestand und von welchem Erfolg sein Eingreifen begleitet war. Es scheint, daß er sich auch hier, wie seiner Zeit in Paris, vielfach optimistisch und phantastisch bewies; auch hat er offenbar manches, aus alter Vorliebe für Frankreich, über seine Instructionen hinaus oder geradezu auf eigene Faust gethan und gezettelt, als ein diplomatischer Dilettant zweiten oder dritten Ranges, wie wir deren noch heute so manche sowohl im Talar des Professors als in der Sutane des Priesters haben. Eine charakteristische Aeußerung über diese nicht unbedenklichen Machenschaften Sturm’s hat Holländer (Eine Straßburger Legende, 1893) aus einem Schreiben des Stettmeisters Sturm veröffentlicht, der 1544 schreibt: „Wiewohl mir beide, her Johann Sturm und Dr. Ulrich Geiger als gelert und getrew leut lieb, so will mich doch bedunken, sy furen handel, die ich nit allein nit loben, sondern die auch inen und gemeyner stat zu hohem schaden und nachteyl reychen mögen … Es ist ein großer ruf und sag am Kay. Hof, wie sy beyd vil in Frankreich schreyben sollen, das auch was Frantzosisch bey inen und sonderlich dem Sturmen inkhere und beherbergt sey. Nun hab ich durch andere leut sy genugsam verwarnen und bitten lassen, sonderlich den Sturmium, daß sye den Ding müßig gen wollen. Ich syhe aber oder sorg, es verfahe wenig. Ich gedenk auch, ob nit gut sein solt, das man es inen bey iren Burgerpflichten verboten hett.“ Und noch 1548 äußert er sich ähnlich über diese Machenschaften des franzosenfreundlichen Rectors. Natürlich dürfen wir alles das nicht mit unserem heutigen nationalen Pathos beurtheilen oder uns sittlich darüber entrüsten; aber daß er „aus solchem Dienst die Seele hätte rein zurückgezogen“, werden wir allerdings nicht glauben. Und wäre es auch nur der böse Geist der Eitelkeit, der – ein stehender Zug bei solchen freiwilligen Diplomaten – auch bei St. nicht gefehlt hat, eine Eitelkeit, die diese Missionen für viel wichtiger hält, als sie es sind. Der Briefwechsel Sturm’s mit dem König Christian III. von Dänemark kann uns zeigen, welcher Art die Dienste sind, die er in jener zeitungslosen Epoche als Privat-Rundschauer gekrönten Häuptern leistete, und ob es angezeigt war, sich auf diese Beziehungen so gar viel einzubilden.

Je rastloser aber St. auf diesem Gebiet eines politischen Agenten war, um so mehr mußte diese Vielgeschäftigkeit seinem eigentlichen Beruf Eintrag thun: er mußte sich Wochen und Monate lang vertreten lassen, und das thut auf die Dauer keiner Schule gut, auch wenn durch das Amt der Visitatoren zum voraus für Vertretung gesorgt war. Und so hören wir denn auch Klagen darüber, z. B. von Georg Fabricius, der unter dem 17. August 1545 schreibt, daß St. abwesend sei alterum quoque iam mensem, neque adhuc quando lectiones auspicaturus sit, certi sumus, quod sane nobis molestum est. Auch die schon erwähnten Unterlassungen und Schwierigkeiten in seinem Amt gehen wohl auf [36] diese Allotrioepiskopie zurück. Daß man aber für alles das doch nur Andeutungen auffinden kann, beweist, wie stark das Gefüge und wie tüchtig die Menschen gewesen sein müssen, die er ausgewählt und auf ihren Platz gestellt hat.

Noch fehlt uns aber derjenige Interessenkreis, welcher die schriftstellerische Thätigkeit Sturm’s in seinen letzten Jahren bestimmt und dieselben so gründlich verbittert hat, der theologische. Aus dem eben Gesagten ebenso wie aus der Geschichte seines Uebertritts zur protestantischen Sache, für die ihn Bucer’s Schriften gewonnen hatten, und endlich aus seinen persönlichen Beziehungen zu diesem und zu Melanchthon geht hervor, daß er, wie die Straßburger überhaupt, einer zwischen den Wittenbergern und den Schweizern vermittelnden, den letzteren näher stehenden Richtung angehörte. Nach Bucer’s Weggang (1549) und Sturm’s Tod (1553) bekam aber auch in Straßburg die lutherische Orthodoxie Oberwasser, der Führer dieser unduldsamen Epigonen war der Professor der Theologie Marbach (s. A. D. B. XX, 289 f.), Präsident des Kirchenconvents. In Schulfragen waren St. und er vielfach auf einander angewiesen; neben Anlässen sich zu unterstützen, fehlte aber auch die Möglichkeit zu allerhand Reibungen und Competenzconflicten nicht, zumal da beide streitbare und auf ihre Macht eifersüchtig bedachte Männer waren. Unter den classischen Briefen Sturm’s findet sich auch der schon wiederholt angeführte sehr vorsichtig gehaltene an Marbach, und bei der Erhebung der Schule zum Rang einer Akademie stand dieser an Sturm’s Seite. Und doch war schon vorher (1561) ein heftiger Streit zwischen ihnen ausgebrochen – über die Rechtgläubigkeit eines reformirten Collegen Zanchi, den St. als Rector gegen den lutherischen Eiferer in Schutz nahm. Die Sache wurde einem Schiedsrichtercollegium übergeben, aber dieses machte sie erst recht zu einer Principienfrage: sollte nach der Tetrapolitana, dem Straßburger Glaubensbekenntniß von 1530, oder nach der Augustana entschieden werden? St. trat für die erstere ein, da sich mit ihr für ihn die Erinnerung an Bucer und Jakob Sturm verknüpfte, und wurde dadurch zugleich der Vorkämpfer religiöser Weitherzigkeit und Duldsamkeit. Der Rath aber entschied zu Gunsten der Augustana: „der Tetrapolitana solle man nicht weiter gedenken, sie weder loben noch schelten“. Um des Friedens willen gab St. nach und unterzeichnete 1563 die sogenannte „Straßburger Concordienformel“; dagegen fügte er sich den Anmuthungen Marbach’s und seiner Partei auch in der Folgezeit überall da nicht, wo diese im Schulconvent Einfluß gewinnen und der Akademie den lutherischen Stempel aufdrücken wollten. 1570 bot St. infolge solcher Conflicte dem Rath seine Entlassung an, die aber nicht angenommen wurde. Und nun brach der Streit auch vor der Oeffentlichkeit los, und wurde in einer Reihe von Streitschriften mit erstaunlicher Grobheit und bedenklich wachsendem Selbstgefühl auch von seiten Sturm’s geführt: der langjährige Schulrector und Professor entwickelte ein dem theologischen kaum nachstehendes Unfehlbarkeitsbewußtsein, und an seiner Machtstellung ließ der herrschgewohnte Mann ohnedies nicht rütteln. Daß dieser Streit nicht ohne ungünstige Rückwirkung auf die stetige Entwicklung der Schule bleiben konnte, versteht sich von selbst; übrigens gelang es den vom Rath bestellten Schiedsrichtern 1575 eine Aussöhnung herbeizuführen.

Allein an Stelle des erkrankten Marbach tritt nun Pappus (s. A. D. B. XXV, 163 f.) auf den Plan, an Stelle der Augustana handelte es sich jetzt um die Concordienformel von 1577. Jener junge Zelot, ebenfalls Professor der Theologie und bald auch Vorstand des Kirchenconvents, drang in den Rath, die Concordienformel anzunehmen und auch die Professoren der Akademie darauf zu verpflichten. Zu diesem Behuf vertheidigte er in einer Disputation das in jener Formel so beliebte Verdammen von Glaubenssätzen als wohl verträglich mit der christlichen Liebe. Das war St. zu viel und er untersagte als Rector die Fortsetzung einer [37] solchen von Unduldsamkeit zeugenden und Unduldsamkeit erzeugenden Sophistik. Darüber brach zwischen den beiden der Streit aus, den St. vor allem in seinen vier Antipappi mit einer inzwischen noch erheblich gesteigerten Maßlosigkeit führte. Und wenn wir ihm auch in der Sache durchaus recht geben müssen, so setzte er sich doch – abgesehen von dem vielfach unpassend höhnischen Tone – auch sachlich ins Unrecht, indem er wieder auf die inzwischen abgethane Tetrapolitana zurückgriff. Da die Prediger die Sache auf die Kanzel brachten und gegen die reformirten Ketzer wütheten und hetzten, so gerieth auch die Bürgerschaft in Unruhe, und St. konnte nicht mehr wagen ohne die Bedeckung von Studenten sein Haus zu verlassen. Da gebot der Rath allgemeines Schweigen. Als jedoch von außen her die Schwaben Lucas Osiander und Jakob Andreä sich einmischten und den lutherischen Eiferern in Straßburg zu Hülfe kamen, so glaubte St. diesen Schwaben gegenüber an das Gebot nicht gebunden zu sein, und ließ sein grobes Geschütz nun gegen sie spielen. Der von Pappus beeinflußte Rath aber sah darin einen Friedensbruch und bedrohte unter dem 29. Juli 1581 St. sogar mit Gefängniß; und als er sich darüber beschwerte, wurde ihm unter dem 18. November eröffnet, er könne wegen seines Alters um seine Entlassung einkommen, andernfalls werde man einen neuen R[e]ctor wählen. Darauf ließ sich aber der rector perpetuus nicht ein, und nun geschah, was weder moralisch noch juridisch zu rechtfertigen war: er wurde am 7. December abgesetzt. Seine Proteste halfen nichts, und einen Proceß um sein gutes Recht, den er beim Kammergericht in Speier anstrengte, mußte er aus Mangel an Mitteln vor der Entscheidung fallen lassen.

So zog er sich besiegt, doch ohne sich als besiegt zu erklären, auf sein Landgut, sein Tusculum, nach Nordheim bei Marlenheim zurück, dessen Einkünfte, verbunden mit der ihm belassenen Pfründe eines Propstes von St. Thomas wohl ausgereicht hätten, ihn standesgemäß leben zu lassen, wenn nicht die Zinsen für eine Schuld zu bezahlen gewesen wären, die er seiner Zeit für die französischen Hugenotten aufgenommen hatte. Alle Versuche zu diesem Gelde zu kommen scheiterten, was um so schnöder erscheint, als St. auch sonst im Dienste und Interesse der französischen Protestanten unermüdlich thätig gewesen war; erst lange nach seinem Tode (1622) zahlte das Haus Condé seinen Erben die inzwischen auf 80 000 Livres angewachsene Summe pflichtmäßig zurück. So lebte St., ein überdies fast blinder Mann, in Armuth und Einsamkeit dahin; seine Kinder waren alle früh gestorben, und seine dritte Frau, Elisabeth geborne von Hohenburg (die zweite, Margarethe, war eine geborne Wigand) war in der städtischen Wohnung zurückgeblieben, um dort ein Pensionat weiter zu führen. Aber trotz allem verließ ihn weder sein Gottvertrauen und die Heiterkeit seines Gemüths, noch die Lust zur Arbeit. Ein längst gehegter Plan, ein Werk über die Vertreibung der Türken aus Europa zu schreiben, gedieh zum Abschluß; doch erschien es erst 10 Jahre nach seinem Tode. Auch sonst fiel noch der eine und andere Lichtblick in das verdüsterte Leben, namentlich von außen – so ein verspäteter Ruf nach Heidelberg, und so die Sammlung und Veröffentlichung seiner pädagogischen Schriften durch den Senator Heinrich Stroband in Thorn, als es galt die dortige Schule zu reformiren. Endlich aber kam für den 82jährigen der Erlöser, der Tod – am 3. März 1589. Auf dem Friedhof St. Gallen in Straßburg wurde er beerdigt, und jetzt erinnerte sich auch die Akademie noch einmal ihrer Pflicht gegen ihren ersten Rector und veranstaltete am 31. März eine solenne Todtenfeier zu seinen Ehren.

Sein Name aber blieb als der des großen humanistischen Schulrectors und Pädagogen im 16. Jahrhundert, ja er wurde in unserer Zeit noch einmal Gegenstand eines lebhaft geführten Streites. Nicht lediglich aus historischem Interesse; sondern es galt die Frage, ob in dem Gymnasium, wie es der Neuhumanismus [38] seit Anfang unseres Jahrhunderts wiederhergestellt hatte, der Sturmische Geist noch umgehe und umzugehen das Recht habe. Man kann St. historisch gerecht werden, und das letztere dennoch bestreiten; und man kann namentlich die formale Aufgabe sprachlicher Schulung mittelst des Lateinischen auch für unsere Zeit noch als ein richtiges Ziel anerkennen, und daneben dennoch wünschen, daß die Sturmische Art des Betriebs und die Sturmische Auffassung ihrer Aufgabe von unseren Gymnasien definitiv und völlig fern gehalten werde. Um wen aber nach 300 Jahren noch in dieser Weise gestritten wird, als wäre er ein Lebendiger und immer noch eine Macht, der ist kein unbedeutender Mensch gewesen, wenn man auch Lange in seinem Urtheil über St. Recht geben muß, daß „seine Talente größer waren als seine moralische Kraft“.

Manes Sturmiani sice Epicedia scripta in obitum s. v. D. Joan Sturmii una cum parentaliis eidem memoriae et gratitudinis ergo factis a diversis amicis atque discipulis. Argentorati MDXC. – F. W. Röhrich, Geschichte der Reformation im Elsaß. Straßburg 1830/32. – A. G. Strobel, Histoire du Gymnase Protestant de Strasbourg. Straßburg 1838. – K. v. Raumer, Geschichte der Pädagogik I (erstmals 1842). – Charles Schmidt, la vie et les travaux de Jean Sturm. Straßburg, Paris, Leipzig 1855. – Fr. A. Lange’s Recension Raumer’s und Schmidt’s, in den N. Jahrb. f. Philologie u. Pädagogik 76, 3. 1857. S. 122 ff. – Hugo Rieth, Leben und Wirken des berühmten Straßburger Rectors Johannes Sturm. Programm des großh. Realgymnasiums zu Eisenach 1864. – Fr. A. Eckstein, Vortrag über Joh. Sturm auf der 24. Philologenversammlung zu Heidelberg 1865 (Berichte S. (64–70). – Fr. K. Kaiser, Johannes Sturm, sein Bildungsgang und seine Verdienste um das Straßburger Schulwesen. Jahresber. d. Realschule zu Köln 1872. – L. Kückelhahn, Johannes Sturm, Straßburgs erster Schulrector. Leipzig 1872. – E. Laas. Die Pädagogik des Johannes Sturm. Berlin 1872. – Boßler, Johann Sturm in K. A. Schmid’s Encyklopädie des ges. Erziehungs- u. Unterrichtswesens IX (1873; 2. Aufl. unverändert 1887). – Fr. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts. Leipzig 1885. – K. Engel, Das Schulwesen in Straßburg vor der Gründung des protestantischen Gymnasiums 1538. Programm des prot. Gymnasiums. Straßburg 1886. – R. Zöpffel, Rectoratsrede über Johannes Sturm, den ersten Rector der Straßburger Akademie. Straßburg 1887. – Festschrift zur Feier des 350jährigen Bestehens des protestantischen Gymnasiums zu Straßburg. Straßburg 1888 (darin: H. Veil, Zum Gedächtniß Johannes Sturm’s S. 1–132; K. Engel, Das Gründungsjahr des Straßburger Gymnasiums 1538–1539 S. 113–142; J. Crüger, Zur Straßburger Schulkomödie S. 305–354). – K. A. Schmid, Geschichte der Erziehung vom Anfang an bis auf unsere Zeit II, 2. Stuttgart 1889 (darin: Georg Schmid, Johannes Sturm in Straßburg S. 302–388).
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