Verschiedene: Die Gartenlaube (1878) | |
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Was ist und was will „Gesundheitslehre“?
Oft hört man sagen, die Hygiene[1] oder Gesundheitslehre sei eine neue Wissenschaft, und erst jetzt beginne eine erfolgreiche, rationelle Gesundheitspflege; aber die Hygiene ist ihren thatsächlichen Grundlagen nach so alt, wie das Menschengeschlecht, welches sie von jeher erfahrungsgemäß und instinctmäßig betrieben hat, gerade so wie Essen und Trinken. Wenn die Menschen hätten warten müssen, bis ihnen die Wissenschaft Anleitung gegeben hätte, wenn sie nicht von Anfang an praktisch hygienisch vorgegangen wären, so hätten sie sich nie über den thierischen Zustand hinaus entwickeln, sich nie über die ganze Erdoberfläche verbreiten können, gerade so wie sie verhungert und verdurstet wären, wenn der Gebrauch von Speise und Trank davon abhängig gewesen wäre, daß man zuvor die Gesetze der Ernährung gekannt hatte. Neu ist nur, daß man jetzt nach einer wissenschaftlichen Begründung der praktischen Hygiene sucht. Es muß Alles erst thatsächlich bestehen oder, wie man gewöhnlich sagt, „geschaffen sein“, ehe man etwas wissenschaftlich erkennen und durchdringen kann. So setzen nicht nur die Naturwissenschaften die Natur voraus, sondern es ging auch der Politik und Staatswissenschaft die thatsächliche Bildung von Gemeinwesen und Staaten vorher, ebenso wie Wirthschaft, Handel und Verkehr der Nationalökonomie, wie Gewerbe und Industrie der Technologie und den Ingenieurwissenschaften.
Unter solchen Umständen liegt die Frage nahe, was es denn nützt, wenn sich die Wissenschaft zur Empirie (Erfahrungswissen) gesellt, oder was es schadet, wenn die Praxis allein ihren Weg verfolgt? Ganz allgemein ausgedrückt, ist der Unterschied ein ähnlicher, wie zwischen Handlungen aus Instinct und aus Selbstbewußtsein, also eigentlich wie zwischen Thier und Mensch. Erst von dem Augenblicke an, wo man sich um das Warum des Thuns kümmert, wo man die Gesetze erkennt, nach welchen sich das Geschehen richtet, wird es möglich, eine tiefer gehende Kritik zu üben und wesentliche Verbesserungen einzuführen. Einige Beispiele mögen anschaulich machen, wie sehr sich auch in anderen Dingen die Praxis ändert, sobald sie von der Wissenschaft berührt und durchdrungen wird, wenn sie, so zu sagen, zum Bewußtsein kommt.
Schon vor ein paar tausend Jahren hatten die alten Römer gefunden, daß ein vulkanischer Sand (Puzzolanerde) mit gelöschtem Kalk gemengt einen vorzüglichen hydraulischen (unter Wasser erhärtenden) Mörtel giebt. Auf ihren Eroberungszügen durch die damalige Welt fanden sie noch hier und da einen Ort, wo ein zu diesem Zwecke geeignetes Material vorkam, z. B. der Traß am Rhein. Die Gegenden um Puteoli und an der Eifel blieben noch das ganze Mittelalter hindurch bis zu Anfang dieses Jahrhunderts die privilegierten Fundorte für dieses zu Wasserbauten unentbehrliche Material, welches von da aus weit in alle Wett geholt wurde. Man wußte eben nicht, warum Puzzolanerde und Traß mit Kalk unter dem Wasser erhärten. Als aber die Wissenschaft die Ursache des Erhärtens herausgebracht hatte, lernte man bald überall, wo thonhaltige Kalksteine vorkamen, hydraulischen Kalk brennen, und wo diese sich nicht fanden, mischte man einen geeigneten Thon mit Kreide, brannte das Gemenge und stellte auf diese Art den Portlandcement her, der besser ist als Puzzolanerde und Traß.
Die Alten kannten so gut wie wir den Blitz und seine Wirkungen, und sie kannten auch die Metalle, aber es konnte ihnen nicht einfallen, Blitzableiter herzustellen, weil sie nicht wußten, daß der Blitz ein elektrischer Funke ist und daß die Elektricität durch Metalle abgeleitet wird, was erst in der Neuzeit die Wissenschaft gelehrt hat.
Die alten Römerstraßen, deren großartige Ueberreste wir heutzutage in Deutschland noch finden und anstaunen, sind gewiß ein sprechender Beleg dafür, wie entwickelt bei ihren Erbauern schon der Sinn für den Weltverkehr, für Verkehrswege war. Sie hätten für Errichtung von Eisenbahnen alle materiellen Bedingungen und auch den hinreichenden Unternehmungsgeist gehabt, aber sie wußten noch zu wenig von den Gesetzen der Schwere und der Reibung, nichts von den verschiedenen Aggregatzuständen der Körper und der Ausdehnungskraft des Wasserdampfes. Erst nachdem man sich lange Zeit mit der Ermittelung der physikalischen und mechanischen Gesetze befaßt und viele davon gefunden hatte, war es möglich, an praktische Anwendungen zu denken, die über das Gewöhnliche und Nächstliegende hinausgingen.
Nicht minder, als die physikalische und mechanische Praxis wird gegenwärtig die gesammte chemische Technik von der Wissenschaft beeinflußt, beherrscht und umgewandelt. Die Schwefelsäure, das Vitriolöl, destillirte man sonst tropfenweise aus geröstetem Eisenvitriol. Nachdem die Wissenschaft ermittelt hatte, daß das Vitriolöl, mit dem man so viele chemische Processe veranlassen konnte, eine Verbindung von Schwefel und Sauerstoff sei, lernte man es bald durch Verbrennen von Schwefel in Strömen darstellen, und man nennt jetzt nicht mit Unrecht das Schwefelsäurehydrat, wie es in den Bleikammern gewonnen wird, die Mutter der technischen Chemie.
Und so scheint es mir auch ein naturnothwendiger Schluß zu sein, daß es mit unserer hygienischen Praxis ebenso kommen muß, wenn wir sie einmal wissenschaftlich durchdrungen haben. Unsere Häuser zu bauen und einzurichten unsere Kleider anfertigen zu lassen und zu tragen, unsere Mahlzeiten zu bestellen, uns verschiedenen Beschäftigungen hinzugeben, haben wir bisher ohne alle Wissenschaft fertig gebracht und haben uns dabei, was Gesundheit anlangt, nur von instinctiven Anforderungen leiten lassen. Wenn wir uns nun zu fragen anfangen, was wir mit der herkömmlichen Praxis für unser Wohlbefinden denn Alles bezwecken, welche Mittel uns zur Erreichung dieser principiellen Zwecke zu Gebote stehen, und wenn wir diese Fragen zu beantworten gelernt haben, dann wird es sich wie von selbst ergeben, daß wir gar Vieles anders, besser und wohlfeiler machen können.
Der wissenschaftliche Betrieb der Hygiene ist noch jung, und daß er nicht älter ist, hat seinen Grund darin, daß erst andere Disciplinen, namentlich die Physiologie und Pathologie, vorausgehen und bis zu einem gewissen Grade entwickelt sein mußten, ehe man festen Grund bekam, um darauf Brücken in’s Gebiet der Hygiene schlagen zu können. Hygiene ist nach meiner Ansicht eine auf Gesundheit und Verhütung von Krankheit gerichtete, auf physiologischer und pathologischer Grundlage ruhende Wirthschaftslehre.
Die Betriebsmittel der praktischen Hygiene sind bisher fast ausschließlich rein auf dem Wege der Erfahrung entstanden, müssen nun aber auch wissenschaftlich betrachtet und zergliedert, auf ihre Werthigkeit geprüft werden. Da es in dieser Richtung sehr viel zu untersuchen giebt, so muß daraus ein eigenes Geschäft gemacht und ein Platz dafür ausfindig gemacht werden. Es wird nichts anderes übrig bleiben, als auch dieses wissenschaftliche Geschäft dorthin zu verweisen, wo schon andere mit Erfolg betrieben werden: an Hochschulen und an Akademien, und namentlich haben sich zunächst die medicinischen Facultäten darum zu kümmern.
Da aber die Ausübung der Hygiene nicht einem besonderen Stande ausschließlich obliegt, sondern neben dem Arzte auch der Architekt und Ingenieur, der Verwaltungsbeamte, der Schulmann, der Fabrikbesitzer, ja schließlich jeder Familienvater und jede Mutter und Hausfrau mitzuwirken haben, so muß das Interesse und ein gewisses Verständniß dafür in den weitesten Kreisen geweckt und wach erhalten werden.
Man kann die Hygiene in ihren praktischen Theil: „die Gesundheitspflege“ und in ihren theoretischen: „die eigentliche Gesundheitslehre“ theilen. Obschon erstere in letzterer ihre Begründung zu suchen hat, so befaßt man sich aus naheliegenden Gründen doch auch gegenwärtig, wo man bereits nach der Theorie fragt, noch mit Vorliebe mit Gesundheitspflege und strebt in populären Schriften diese dem größeren Publicum zur Anschauung zu bringen. Vom Standpunkte der theoretischen Gesundheitslehre aus ist aber noch wenig geschehen, um sie ihrem gegenwärtigen Stande entsprechend
- ↑ Hygieine anstatt Hygiene zu schreiben und zu sprechen, halte ich nach sonstigem deutschem Sprachgebrauch nicht für gerechtfertigt. Die Gründe dafür habe ich in einer Notiz in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ vom 5. December 1877, Außerord. Beilage, angegeben, welche auch in das „Bair. ärztl. Intelligenzblatt“ 1877 Nr. 50 übergegangen ist.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 328. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_328.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)