Textdaten
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Autor: F. H.
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Titel: Die Nacht in Tirol
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aus: Die Gartenlaube, Heft 50, S. 787–790
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: „Auf der Alm, da gibt's koa Sünd“
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[787]
Die Nacht in Tirol.


In Tirol war es, aber ich werde mich hüten, der Geistlichkeit und der Gensd’armerie daselbst das Thal und den Berg zu verrathen, wo ich eine gar trostreiche heimliche Freude erlebte. Denn trostreich ist es gewiß, wenn in einem Lande, das man kaum anders, als mit Bedauern über die pfäffische und polizeiliche Verkümmerung des Volksgeistes nennt, ein fröhliches Beispiel uns zeigt, daß selbst in dieser Felsenburg finsterster Intoleranz das Volksgemüth seinen Zug nach der alten Lustbarkeit noch nicht ganz aufgegeben hat. Erfreulicher würde allerdings eine offene, männliche Opposition gegen das allzu strengväterliche Regiment gewesen sein; da aber in den Volkskreisen eine solche vor der Hand zu den Unmöglichkeiten gehört, so wollen wir einstweilen mit der „heimlichen Freude“ fürlieb nehmen.

Bekanntlich wurde die vom Papste Pius dem Neunten ausgesprochene Erklärung von der entschiedenen Unbeflecktheit der heiligen Jungfrau Maria vor etwa zwölf Jahren von der Geistlichkeit namentlich in Oesterreich zu einer Reihe von neuen kirchlichen Festlichkeiten, aber zugleich auch zur immer weiteren Befestigung des Priestereinflusses auf das Familien- und Gemeindeleben ausgenutzt. Wenn nun dies in allen, auch den sonst gern als die lichthelleren gepriesenen Kronländern geschehen konnte, was mußte da gar erst in Tirol möglich sein! Dort stopfte man, damals das letzte Loch zu, durch welches noch ein irdischer Zugwind in die dumpfige Schwüle hätte eindringen können, welche vom treuen Bund des Klerus und der Polizei dem Lande als das Dienlichste empfohlen und aufgezwungen worden war. Damals verbot man überhaupt alle Tanzmusik und damit Tanz und weltlichen Gesang. „In meinem Sprengel hört man außer der Kirche keinen Ton mehr!“ So rühmte sich der Pfarrer, dem wir trotzdem das Herzeleid bereiten müssen, die folgende Ausnahme von seiner Behauptung zu erzählen.

Im Sommer 1856 lebte ich mehrere Monate im Gebirge bei einem meiner Freunde, der dort als praktischer Arzt ansässig war. Eines Tages waren wir, um einen Krankenbesuch zu machen, über den Berg nach W. gewandert. In dem lieblichen Thalkessel hatten wir uns bei einem guten Glase Bier bis gegen Abend verweilt. Es war ein Sonntag und zugleich Kirchweihtag, d. h. stille Kirchweih, ohne Sang und Klang. Die Geistlichkeit hatte es eben durchgesetzt, daß angeblich zur Verhinderung der herkömmlichen Raufereien die Feier sämmtlicher Kirchweihen auf einen und denselben Tag gelegt und ein strenges Verbot irgend welcher Tanzmusik erlassen worden war. Mit Dunkelwerden machten wir uns auf den Heimweg. Es war vollständig Nacht geworden, als wir auf der Höhe des Berges ankamen. Alles war still in der Natur. Da hörten wir plötzlich merkwürdige Töne, wie von stampfenden Rossehufen, und ein dumpfes Gebrause. Nach ein paar Schritten konnten wir nicht mehr zweifelhaft sein, daß ein ganz nahe gelegener Holzschuppen uns Aufschluß über den Ursprung des Getöses geben könne, da überdies ein durch einen Spalt in der Breterwand dringender Lichtstrahl uns bereits verrathen hatte, daß dort etwas Geheimes begangen werde. Nichts natürlicher, als daß uns die Lust überkam, uns die Sache in der Nähe anzusehen. Wir traten dicht an den Schuppen heran. Aus dem untern dunkeln Raume trat uns Jemand entgegen.

[788] „Guten Abend,“ sagten wir.

„Guten Abend.“

Alles war mäuschenstill und stockfinster.

„Was wollt’s es denn?“ fragt die Stimme aus dem Dunkeln.

„Nun, da wird ja getanzt und da wollten wir halt auch ein Bischen mitthun.“

„Da wird nit tanzt,“ war die kurze Antwort.

„Na, Ihr glaubt wohl gar, wir wären d’ Standari (Gensdarmen)? Das braucht’s nit zu fürchten! Kennt’s mi denn nit? Ich bin ja der Doctor von Au und das ist mein Freund.“

„Ach so, der Docter seid’s? Na, da kommt’s nor aufi!“

Und wir stiegen nun mit ihm eine Art Hühnerleiter hinauf, in die Beletage, wo jeder Ton und jeder Lichtschein verschwunden war, so lange wir mit dem Sicherheitsposten verhandelten. Erst als dieser nach oben gemeldet, welch’ unschädliche Störenfriede wir seien, ging plötzlich wieder das einzige Licht auf, das in einer Stalllaterne brannte und über das man bei unserem Nahen einen henkellosen Eimer gestülpt hatte, der offenbar zu diesem Zweck bereit stand.

Welches Bild dieses so sorgsam geschirmte Flämmchen beleuchtete? Eine Kirchweih im Holzschuppen! Nichts fehlte ihr, als die lachende Sonne und der blaue offene Himmel dazu. Aber Beides hatten diese Kirchweihgäste vermeiden müssen, um heimlich Tanz und Gesang dafür einzutauschen. Lautlose Völlerei wäre ihnen im Dorfe drunten gestattet gewesen. Da aber ihr Herz sich nach der altlieben schalkhaften Fröhlichkeit sehnte, zu welcher Citherklang und Tanztact gehören, so mußten sie wie Schelme in der Nacht in der einsamen Berghütte zusammenschleichen. Trotzdem war Alles so gut vorbereitet, daß auch hier die Freude eine vollständige wurde. Die Musik hatte sich an den ihr gebührenden Platz am großen Tisch in der einen Ecke postirt, und zwar bestand sieb aus einem Citherspieler, der sein selbstgefertigtes riesiges Instrument meisterhaft handhabte, und einem neben ihm auf einem Barrenbalken sitzenden tactfesten Burschen, der mit einem Schlittenschellengeläute die anregende Begleitung dazu besorgte; Diese beiden Tonkünstler und ein neben ihrem Tisch aufgepflanztes ansehnliches Faß Bier hielten die Lebensgeister des Völkchens munter, das hier in den verschiedensten Gruppen sich wohlig beisammen fühlte. Da saßen und lehnten die älteren Männer, denen das Pfeifchen so gut schmeckte, die rüstigeren, die den Einschank am Faß besorgten, und die jungen Bursche, mit denen die Mädchen am liebsten verkehrten, während die älteren Frauen wie gutherzige Sittenwächterinnen vollzufrieden dazwischen saßen. Da stiegen uralte Schnaderhüpfl aus den Gräbern, in welche der Pfarrer und der Gensdarm sie hin gebannt, munter hervor, der Nagelschuh suchte die Schlittenrolle zu übertäuben, und Niemand dachte daran, dem Kuß in Ehren zu wehren.

Wie wohl waren wir hier aufgehoben! Einmal als Gäste in die Heimlichkeit mit hereingezogen, verspürten wir nichts von dem kältenden Anhauch, mit dem sonst der Tiroler Landmann alle „Herren“ und alles „Herrische“ von sich zurückhält. Die jungen Leute führten uns ihre schönsten Tänze vor und luden uns ein, Theil an ihrer Lust zu nehmen. Zwischen Gesang und Tanz und manchem guten Wort zum trefflichen Trunk verrauschte die Zeit, und nichts störte die köstlichen Stunden. Es war ein recht treuherziger Abschied, zu dem uns Alle die Hand reichten, als wir nach Mitternacht aufbrachen, um die Leutchen allein ihre Kirchweih ganz zu Ende feiern zu lassen.

„Wie ist es Dir zu Muthe? Welch’ Gefühl nimmst Du von dem lustigen Abenteuer mit fort?“ fragte mich mein Freund, ‚der Docter von Au‘, als wir, aus dem Bereich der Kirchweihmusik gekommen, unsere Straße wieder erreicht hatten.

Sieh, antwortete ich, wenn ich diese Menschen betrachte, wie sie von der Natur körperlich so gut ausgestattet und wahrlich auch geistig nicht stiefmütterlich bedacht sind, so überkommt mich Zorn und Leid über den verwahrlosten Zustand, in welchem sie dahinleben müssen. Wie viel Mühe und Aufwand würde mehr daran zu wenden sein, dieses Völkchen seiner Begabung gemäß zu einem Musterschlag von Menschen zu erziehen, als jetzt seine Verdummung kostet?

„Leider hast Du Recht,“ erwiderte mein Freund, „und die Trauer um dieses Volk wird noch größer, wenn wir sehen, welche Talente es in seinen untersten Kreisen schon besaß und noch heute geradezu versteckt. Wer kennt nicht den Peter Anich und Blasius Hueber, zwei Bauern, welche, ohne irgendwelche Anleitung, nicht nur die erste gute Karte von Tirol entwarfen, sondern Erd- und Himmelskugeln verfertigten, die ihrer Zeit als Wunderwerke angestaunt wurden. In der Malerei und Bildnerei herbergt Tirol nicht blos viele kleine Meister auf den Dörfern, sondern hat auch größere allgemein bekannte Künstler erzeugt. Rechne dazu, welche Tüchtigkeit dieses Volk in seinen Landesvertheidigungen bewährte, welches Selbstgefühls es sich so oft fähig erwies, und denke nun, wenn man zu diesen Volkstugenden der Tapferkeit, der Vaterlandsliebe und des Ehrgefühls das alte heitere Volksleben erhalten und dem Bildungstrieb die Wege nur wenigstens unverrammelt gelassen hätte, welch’ ein Bild müßte heute Tirol und sein Volk bieten!“

Und dies Alles, grollte ich, opfert man der Herrschsucht und dem möglichst ungestörten Wohlsein einer zahllosen Geistlichkeit!

„Darin irrst Du; die Stellung der Priester an sich und zum Volke ist eine ganz andere,“ belehrte mich der Doctor. „Die geistliche Zwingherrschaft, unter welcher die Pfarrer so viel wie die Unterthanen leiden, geht von den Bischöfen und zuhöchst vom Erzbischof von Salzburg aus. Die meisten Geistlichen sind arme Söhne dieses Volks und treten mit ihrem Amt, oft in hochgelegenen, im Winter kaum zugänglichen Dörfern, von aller Welt und Weltfreude getrennt, den langen Leidensweg ihres ganzen Lebens an. Zu ihren Entbehrungen kommen nun noch die von den Liguorianern eingeführten gemeinschaftlichen Bußübungen der Geistlichen eines bestimmten Bezirks, um in düsteren, mystischen Feierlichkeiten die Abtödtung alles Irdischen in ihnen zu vollenden. Ohne innern Halt durch eine gediegene wissenschaftliche Bildung, und ohne die äußere Hülfe einer kräftigenden Literatur, tritt dann der arme geknickte Pfarrer vor das Volk – und kennt nichts Besseres, als es denselben Weg zum Himmel zu führen, auf dem er sich selbst zu befinden glaubt. Und das ist die Quelle, aus der die Verkümmerung des Volksgeistes am üppigsten fließt.“

Großer Gott, was Alles mag in den Augen solcher Unglücklicher als Sünde erscheinen!

„Das geht allerdings weit. Wenn auch Klerus und Polizei Hand in Hand manche wirklich häßliche alte Volksunsitten beseitigt haben, so sind mit dem Unkraut auch viel unschätzbare Blumen und Blüthen des Volksthums mit vertilgt worden. Der sicherste Zufluchtsort der Volkspoesie war bei den Sennerinnen auf den Almen. Dort konnten Klerus und Polizei sie nicht so streng überwachen, aber ebendarum sorgten sie dafür, daß sämmtliche Sennerinnen von ihren Alpen vertrieben wurden – und mit ihnen die Cither und das frische Lied der Berge, das alles Denken und Fühlen, alles Jubeln und Zürnen des Volks verarbeitende Schnaderhüpfl.

„Der traurigste Erfolg der Verkirchlichung des gesammten Lebens in Tirol ist aber der Einfluß der Missionen mit ihren öffentlichen Bußübungen. Wie die Liguorianer für die Geistlichen, so haben deren jesuitische Genossen, die Redemptoristen, für das Volk diese Zerknirschungsfeierlichkeiten eingeführt. Da sitzen nun die armen Mädchen, in denen der Geist der Jugend seine natürliche Kraft äußern möchte, und lauschen den entsetzlichen Worten des Priesters, der ihnen vordonnert, daß jede weltliche Freude dereinst mit Martern der Hölle gebüßt werde, – und welche Legenden, welche heiligen Lügen, welche gräßlichen Schilderungen von Fegefeuer, Hölle und Teufel muß das arme Volk anhören und glauben! Und es glaubt sie mit Zittern und Zagen – es weint und jammert laut – die Wirkung auf die von aller Freude leeren Gemüther, denen kein Strahl des allgütigen, allerfreuenden Himmels das trübselige Einerlei der Tageslast erhellen und erheitern darf, ist schon oft eine so furchtbare gewesen, daß über die Unglücklichen das letzte Unglück Herr wurde: der Wahnsinn! Wenn alle Fälle dieses Unglücks hinausgedrungen wären in’s große Deutschland, der Schmerzensschrei wäre so mächtig geworden, daß sich kein Spott gegen ihn herausgewagt hätte. Wer Das mit ansehen muß, lieber Freund, der erst kann einen Abend, wie wir ihn dort in dem Holzschuppen erlebt haben, als einen großen Trost schätzen, der ihn mit der Zuversicht stärkt, daß wenigstens noch ein Thal übrig ist, in welchem die Gesundheit des Volksgemüths ihre Unverwüstlichkeit beweist. Das ist für mich der Werth dieses Abends gewesen und wird mir dieses Abenteuer unvergeßlich machen.“

[789]

Heimliche Kirchweih in Tirol.
Aus dem Skizzenbuche eines Münchner Künstlers.

[790] Wir waren daheim angekommen; tief bewegt sagten wir uns Gute Nacht. Am andern Morgen verließ ich das Thal.

Das war vor zehn Jahren. Was ist seitdem aus Tirol geworden? Zwei neue Kriege haben das Land erschüttert und das Volk zu den Waffen gerufen; es hat die Treue und Tapferkeit der Männer bewährt. Aber dem Geiste des Volks ist darum kein Licht aufgegangen. Die wenigen muthvollen Kämpfer gegen die hereinbrechende Nacht standen zu verlassen da, der vereinten Macht des Staates und der Kirche gegenüber: denn das bedeutet das Concordat, das beide zu Parteigenossen gegen jedes aufflackernde Flämmchen von rettender Wahrheit und Freiheit macht. Der deutsche Nationalgeist hat sich erhoben und die Tiroler jubelnd bei seinen Festen begrüßt. Als Turner, Schützen und Sänger schloß das deutsche Volk sie wie halb verloren gewesene und nun ganz wiedergefundene Brüder in die Arme – und was ist heute der Dank für den Kuß der Frankfurter Jungfrau, der dem Land Tirol galt? Die Protestantenhetze, der Sieg der „Glaubenseinheit“ Tirols!

Und wenn wir nun gar heute auf das Land blicken, das aus Deutschland hinausgeworfen und der vollen Gewalt der Jesuiten preisgegeben ist, die nun endlich von Deutschland frei sind – so bleibt uns nichts übrig, als gepreßten Herzens mit Schiller’s Worten die Frage an das allwaltende Schicksal:

„Wann wird der Retter kommen diesem Lande?“

F. H.



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