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Artikel „Retberg, Ralf (Leopold) von“ von Hyacinth Holland in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 28 (1889), S. 251–255, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Retberg,_Ralf_von&oldid=- (Version vom 26. Dezember 2024, 18:49 Uhr UTC)
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Retberg: Ralf (Leopold) v. R., Erbherr auf Wettbergen (Hannover), Kunstschriftsteller und Culturhistoriker, geboren am 25. November 1812 zu Lissabon, wo sein Vater (die Mutter war eine geb. v. Schnehen) als Artilleriehauptmann der englisch-deutschen Legion cantonirte. Nach der Schlacht von Waterloo kamen die Eltern in die kleine Festung Condé an der flandrischen Grenze in Garnison; dort erhielt der kleine R. den ersten durch Zwang- und Strafaufgaben gründlich verleideten Schulunterricht im Französischen. Lebhaften Sinn für alles Deutsche, Vorliebe für Ordnung und Sauberkeit weckte der wackere Vater, welcher, als 1818 die Hannoveraner heimkehren durften, seinen Sohn über das Schlachtfeld von Belle-Alliance führte und ihm die Stellung seiner Geschütze und die Seite zeigte, woher rechtzeitig die rettenden Preußen gekommen waren: das machte einen mächtigen Eindruck auf den Jungen und weckte neue Abneigung gegen alles Französische. So erwuchs aus der innigen Verehrung seines edlen Vaters auch die seines Vaterlandes, noch ehe er dessen Grenzen betreten hatte. Erst 1819 zogen die Eltern über Ostfriesland nach Deutschland heim und der Vater erhielt als Major seinen Standort zu Stade an der Elbe. Hier fielen dem lebhaften Knaben die damals vielbeliebten Almanachbilder von Joh. Heinrich Ramberg in die Hände; indem er diese in ihrer Manierirtheit nicht gerade empfehlenswerthen Vorbilder nachzuzeichnen strebte, lernte er doch das künstlerische Sehen. Mit elf Jahren wagte er schon, eine Ansicht von Eutin nach der Natur zu zeichnen. Gleichzeitig regte sich seine Sammellust für allerlei naturgeschichtliche Gegenstände. In der „Quinta“ machten 1824 die Kindermärchen der Grimm, Becker’s Weltgeschichte und die haarsträubenden Ritter- und Räuberromane von Christian Heinrich Spieß, Karl Gottlob Cramer und Chr. August Vulpius ungeheuren Eindruck: deßungeachtet rückte der Knabe schon Michaelis 1825 nach „Tertia“ vor. Verschiedene Schulen und Einzelunterricht förderten rasch genug, sodaß der Jüngling 1829 sein Lieutenantsexamen bestand, mehrere Jahre Adjutantendienste leistete und sich auch in technischen Fächern (z. B. der Gewehrfabrikation) praktische Kenntnisse sammelte. Nebenbei durchlas R. – was doch sonst schwerlich zur Passion eines jungen Kriegers gehört – die ganze Bibel, und zwar mit der Feder in der Hand, ebenso die Werke von Justus Möser, Lessing und Goethe, welche seitdem seine Leitsterne blieben. Verschiedene Reisen durch Deutschland, denen sich eine solche 1836–37 nach Wien, München, Paris und Belgien und 1838 nach Holland, Schottland und England anschloß, förderten die weitere Ausbildung und insbesondere die Neigung zur [252] Malerei und Kunstgeschichte. Am 21. April 1840 heirathete R. Fräulein Davide Caroline, die hochgebildete Tochter des aus einer alten Hugenottenfamilie stammenden Generaladjutanten Martin (Martäng). Mit seiner jungen Frau bereiste R. 1842 Italien und die Schweiz, machte dann 1844 einen längeren Aufenthalt zu Nürnberg, Leipzig, Dresden und Berlin, nahm hierauf, nach dem Tode seine Vaters, eines frühe sich einstellenden Gichtleidens wegen seinen Abschied vom Militär (1845) und siedelte 1846 nach München über, um sich daselbst in der Technik der Malerei weiter zu befestigen.

Inzwischen hatte R. schon zu der ihm unstreitig mehr zuständigen Feder gegriffen und mit zwei sehr achtungswerthen Arbeiten seinen entschiedenen Beruf zur Schriftstellerei bewährt. Zuerst erschienen in 13 großen Foliotafeln seine „Chronologischen Maler-Tabellen“ (Hannover 1841), welche den Zeitraum von Cimabue bis 1820 in übersichtlicher Weise umfassen und einen Einblick in das gediegene Wissen des vorsichtig und gründlich forschenden Autors gewähren. Dann kamen die „Nürnberger Briefe“ (Hannover 1846) mit einer großen, namentlich zur Geschichte der Nürnberger Kunst ausgearbeiteten und besonders ausgegebenen Tafel (in Querfolio) *). Hier schildert R. die Geschichte der Stadt in den romanischen und germanischen Stylepochen auf den Gebiete der Bau-, Bildnerkunst und Malerei, denen sich eine Uebersicht aus dem Gebiete des Holzschnitts und Kupferstichs anschließt. Eine völlig umgearbeitete und mit zahlreichen Holzschnitten ausgestattete zweite Auflage erschien unter dem Titel: „Nürnbergs Kunstleben in seinen Denkmalen“ (Stuttgart 1854). Das persönliche, der leichteren Briefform entsprechende Raisonnement ist hier ganz zurückgedrängt; dagegen das positive Material bereichert, der Inhalt und die Behandlung systematischer, in historischer Gliederung fortschreitend.

Die Malerei gab R. bald wieder auf, begann aber dafür eine kleine, ausgewählte Galerie von Bildern befreundeter Künstler anzulegen. Dann erweiterte er sein Wissen durch gründliche Forschung im Gebiete der deutschen Sprache, Geschichte und Kunst. Mit inniger Pietät vertiefte sich R. in das Studium Dürer’s, sammelte mit einer wirklichen noblen Passion seine Stiche und Holzschnitte in den besten Drucken und brachte so einen überaus kostbaren Schatz zusammen, welchen er sorgfältig hinter Schloß und Riegel hielt, aber auch ebenso bereitwillig und kein Zeitopfer scheuend vor verständigen Freunden und Kennern erschloß **). Es gab eigene Dürer-Feste und -Tage, an welchen z. B. alljährlich einmal die große „Ehrenpforte des Kaisers Maximilian“ aufgelegt und zusammengestellt wurde, wozu dann besondere Einladungen erfolgten. Als neue Frucht ergaben sich einige Artikel in Eggers’ „Kunstblatt“, im Anzeiger des germanischen Museums und Naumann’s Archiv, dann das schätzbare kritische Verzeichniß über „Dürer’s Kupferstiche und Holzschnitte“ (München 1871), welches in möglichst streng historischer Folge einen Einblick in Dürer’s Thätigkeit erschließt, während die angehängten Register es selbst dem Laien leicht machen, sich schnell zurechtzufinden und jedes einzelne Blatt genau zu bestimmen. Auch reproducirte R. an dreißig der seltensten Holzschnitte, indem er selbe auf Stein copirte und die (sorgfältig numerirten) Abdrücke in kleiner Zahl an Freunde und Sammler vertheilte. Trotzdem daß Thausing’s Monographie seine Pläne störte, machte sich [253] R. doch noch einmal 1878 mit einem „Dürerbüchlein“ an die Arbeit, brachte dasselbe 1884 auch glücklich zur Vollendung, aber nimmer zum Druck.

Im richtigen Gefühle, daß eine Zeit nur aus allen Radien und Producten verstanden und begriffen werden könne, zugleich unablässig bemüht, die in seiner Jugendbildung gebliebenen Lücken zu füllen, vertiefte sich R. in gothischen, alt- und mittelhochdeutschen Studien (1855), trieb Diplomatik, vergrub sich in die Bilderhandschriften der Staatsbibliothek und zog darauf das Studium der Sigille und Numismatik in seinen Bereich. Nachdem er noch 1861 die Kunstsammlungen zu Sigmaringen durchforscht hatte, veröffentlichte R. im Anschluß an das in der fürstlich Waldburg-Wolfegg’schen Sammlung befindliche „Mittelalterliche Hausbuch“ (herausgegeben vom germanischen Museum, Leipzig 1866), seine „Culturgeschichtlichen Briefe“ (Leipzig 1865), ein Buch, welches als Vorläufer seinen niemals abgeschlossenen, nur zu großartig und zu weitläufig angelegten Werkes über die „Deutsche Culturgeschichte“ gelten kann. Es bleibt immerdar zu bedauern, daß R. in der Ausführung seiner stets zu universell und schematisch angelegten Pläne von der Ironie des Zufalls durchkreuzt wurde. Als er mit der ihm eigenen Umständlichkeit alles Material für eine „Deutsche Kunstgeschichte“ geordnet hatte, erschien Ernst Förster’s fünfbändiges Werk über den gleichen Gegenstand; als R. seine Forschungen über Albrecht Dürer endgültig abgeschlossen hatte, überraschte Thausing die gelehrte Welt durch seine originelle Monographie; als unser Forscher die Resultate seiner durch ein halbes Leben gesammelten culturgeschichtlichen Studien zu verarbeiten beginnen wollte, erschienen die Werke von Weiß, Rückert, Arnold u. a., welche neben den Publicationen der historischen Commission wenigstens Stillstand und neue Aufnahme des riesig anwachsenden Quellenmaterials geboten. Rethberg’s Arbeit, welche voraussichtlich Epoche gemacht haben würde, unterblieb, weil der Verfasser sich den Umfang selbst für seine eiserne Arbeitskraft als zu weitgreifend gesteckt hatte, dann aber auch, weil R. allmählich über Buchhändler und Verleger so eigenthümliche Ansichten bildete, daß von einer beiderseitigen Vereinbarung kaum mehr die Rede sein konnte. Mit welchen Gefühlen der Autor vor dem großen Wrack stand, zeigen nur einige kurze, seinen Tagebüchern anvertraute Zeilen. Dann trug er die Trümmer zu neuem Aufbau auf ein anderes Gebiet hinüber, um hier im Sande der Heraldik ein Fundament aus Granitblöcken zu legen, worauf dann frisch und sicher weiter gebaut werden könnte. Hiermit kam er am 18. März 1884 beiläufig zum Abschluß, ohne jedoch druckfertig in die Oeffentlichkeit zu treten. Seine „Geschichte der Wappenzierkunst“ – als abgesagter Feind aller Fremdwörter bildete R. oft recht abenteuerliche Umschreibungen – umfaßt deren Entwickelung vom Auftreten der Staufer bis 1480, wo das ritterliche Tragen der Wappen in Wirklichkeit abschließt. R. verfaßte ein alphabetisch geordnetes Reallexikon aller Wappenfiguren, welches zugleich eine vollkommen durchgeführte neue Kunstsprache aus den gleichzeitigen mittelalterlichen Quellen enthält und in den einzelnen Artikeln eine genaue Geschichte jede heraldischen Figur bietet. Bei jeder dieser Figuren findet sich eine möglichst vollständige Liste aller deutschen uradeligen Familien, denen dieselbe zum Embleme gedient hatte. So bringt beispielsweise der Artikel „Adler“ eine ausführliche heraldische Styllehre dieses Zeichens; deßgleichen der „Löwe“ u. s. w. Aber damit wäre R. noch lange nicht zufrieden gewesen. Er schuf also fünf Wörterbücher der heraldischen Kunstausdrücke, in je fünf Sprachen alternirend: neu- und mittelhochdeutsch, holländisch, französisch und lateinisch, wozu bei jedem Schlagwort die betreffenden Wappenbeispiel nach gleichzeitigen Denkmalen beigezeichnet sind; ferner eine sogen. „Wappenrolle“ aus Quartblättern bestehend, auf welche, correspondirend mit dem Reallexikon, die Beispiele aufgeklebt wurden; [254] endlich ein Wappenrepertorium von etwa achtzigtausend Zetteln, welches wieder in zwei Theile gegliedert ist: der erste dient dazu, um zu einem Namen das Wappen, der andere, um zu einem Wappen den unbekannten Namen suchen zu können. Hierin sind adelige und bürgerliche Familien, Bisthümer, Klöster, Städte u. s. w. von ganz Deutschland, mit Einschluß von Deutsch-Oesterreich, der Schweiz, Belgien, Lothringen und der Niederlande, blühende wie ausgestorbene Geschlechter in einem phonetischen Alphabet enthalten. Einen neuen Begriff seines Bienenfleißes gibt die Einrichtung der Repertorienzettel: jeder enthält außer dem Namen das Land, das Datum des ersten Auftauchens, die Standeserhöhung, das Erlöschen, das Wappenbild, die Nebenbilder und die Quellenangabe. So umfaßt z. B. der Buchstabe M rund 2150, das R 2050 Nummern! Dieses ungeheure Material zur „Geschichte der deutschen Wappenbilder“ schenkte R. wenige Wochen vor seinem Tode der Wiener Gesellschaft „Adler“, welche den Schatz mit dem dazu gehörigen Materiale als „Retberg-Stiftung“ zur systematischen Benützung und Weiterforschung aufstellte. Einen andern, freilich geringern, auf germanistische Litteratur bezüglichen Theil des Retberg’schen Nachlasses erbte Herr Professor Dr. Reinhold Bechstein zu Rostock, während alle auf deutsche Cultur- und Kunstgeschichte bezüglichen Manuscripte Retberg’s der Hof- und Staatsbibliothek in München anheimfielen.

Damit ist aber noch immer nur ein Theil von Retberg’s Thätigkeit gezeichnet. Er sammelte nebenbei alles Mögliche, z. B. Naturhistorisches, insbesondere Mineralien und Conchilien, wie er sich auch das Studium der Chemie angelegen sein ließ, er zeichnete und copirte Porträts – ein treffliches Bildniß Retberg’s radirte Julius Thäter 1867 nach dem Leben –, verfaßte eine Menge Unterrichtsbücher für seine Kinder – darunter zwei hoffnungsvolle Söhne, welchen der Vater ins Grab sehen mußte. Dazu schrieb er viele Biographien bedeutsamer Männer, las immer mit der Feder in der Hand, brachte meist sein Urtheil über alle gelesenen Bücher zu Papier, correspondirte, auch als Ehrenmitglied vieler gelehrten Gesellschaften und Vereine, nach allen Seiten, dichtete fleißig – ein „Skizzenbüchlein“ mit sinnigen, an Hans W. Lauremberg erinnernden Gedichten wurde als Handschrift für Freunde gedruckt und verschenkt – verfaßte, froh, seine Gefühlsübereinstimmung mit den Bestrebungen Preußens als deutschen Cultur- und Musterstaates auch öffentlich aussprechen zu können, einige politische Flugschriften und Brochüren, schrieb sechs Bände „Tagebücher des äußeren Lebens“ und brachte in gleichem Umfange sein „inneres Leben“ zum Abschluß. Wie ehedem Bogumil Goltz, so hätte auch R. von sich behaupten dürfen, er sei ein „gedankengequälter Geist“. Alle Erscheinungen des Lebens genial umfassend, perlten und blitzten unablässig seine Gedanken und Ideen; das im Drang des Augenblicks nur mit flüchtigem Stift Festgehaltene überarbeitete er in den letzten Jahren seines Lebens, reihte Alles nach Materien und Schlagworten in alphabetischer Weise und schuf damit ein wahres Grundbuch seines Wollens und Denkens. Hier speculirte er als Philosoph, legte sich sein theologisches Lehrgebäude zurecht, ästhetisirte, politisirte, alles in netter Form, geistreich, bisweilen neckisch und ironisch, immer aber frisch, anregend und originell. Sein Wahlspruch „Christlich und deutsch“ zieht sich als rother Faden durch das Ganze, daran die im tiefen Sinnen oft scharf- und hartgebohrten Perlen seiner Aphorismen sich zum Kranze reihen. Sein System huldigt in Geist und Leben, in Offenbarung, Kunst und Welt einer Trias, welche er als Denken, Empfinden, Wollen, oder als Satz, Gegensatz und Vermittelung, auch als Natur, Gemüth und Geist oder Wahr, Gut und Schön überall durchführt. Immer auf positivem Boden und von innerster Religiosität durchglüht, verwarf er alle äußere Manifestation. Seine Lebensweisheit, welche ihm bei gewöhnlichem [255] Umgang, in sympathischer Umgebung und Anregung, leicht vom Munde floß, erinnert wohl an Jean Paul Richter’s Aphorismen, ohne jedoch deren Sentimentalität zu theilen. Großen Einfluß übte Melchior Meyr, dessen Meditationen über „Gott und sein Reich“ R. „sozusagen auswendig wußte“. An Flüssigkeit und Schönheit der Phantasie sind ihm nur die leider längst vergessenen „Streckverse“ von Wolfgang Menzel vergleichbar. Manches klingt auch absurd; ein ehrenhafter Wahrheitssinn und eine ächte Nobility dringen aber überall durch. Der, wie es schien, kerngesunde und knochenfest gebaute Mann, welcher zeitweise durch ein hartnäckiges Gichtleiden gepeinigt wurde, starb nach langen, schweren Leiden am 12. März 1885 zu München. Eine Auswahl und Herausgabe seiner verschiedenartigen Schriften und Maximen wäre gewiß ein löbliches und lohnendes Unternehmen.

Vgl. Nekrolog in Beil. 278 Allgem. Ztg. vom 7. October 1885.

[252] *) Mit der ihm für diese Form eigenen Vorliebe verfaßte R. bei Gelegenheit der 700jährigen Jubelfeier der Stadt München (1858) eine „Uebersichtstafel zur Begründung einer Geschichte der christlichen Kunst in Oberbayern“, welche er mit einer Widmung „an die Mitglieder des historischen Vereines von und für Oberbayern“ auf eigene Kosten drucken ließ und an Freunde und Bekannte verschenkte.

**) Nach Retberg’s Ableben durch Amsler u. Ruthardt in Berlin, im März 1886, zur Freude aller Sammler wieder versteigert.

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