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Artikel „Zerclaere, Thomasin von“ von Wu. in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 45 (1900), S. 94–95, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Thomasin_von_Zerclaere&oldid=- (Version vom 26. Dezember 2024, 19:00 Uhr UTC)
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Band 45 (1900), S. 94–95 (Quelle).
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Zerclaere: Thomasin von Z. (Zirclaria), didaktischer Dichter, ist urkundlich als Kanonikus von Aquileia bezeugt. Er entstammte der in Friaul ansässigen Familie der Cerchiari, einem Dienstmannengeschlechte der Patriarchen von Aquileia. Ein Bernardus de Circlaria, 1198 als miles de Foro Julii nachweisbar, ist vermuthlich der Vater des Dichters. Im übrigen sind wir für die Biographie Thomasin’s auf Andeutungen aus seinem großen Lehrgedichte angewiesen, das er 1215–1216 verfaßte und als „Wälschen Gast“, d. h. Fremdling aus Welschland in die deutschen Lande wandern ließ. Aus diesem Gedichte entnehmen wir mit ziemlicher Sicherheit, daß Thomasin zur Zeit der Abfassung noch nicht dreißig Jahre alt war, also etwa um 1190 geboren sein muß; ferner, daß er noch vor 1215 mehrere Jahre in den Diensten des Patriarchen Wolfger von Aquileia stand und dort längere Zeit mit Walther von der Vogelweide zusammengelebt haben dürfte (vgl. Schönbach. Die Anfänge des deutschen Minnesangs. Graz 1898, S. 64), der damals gleichfalls im Hoflager der Patriarchen weilte (vgl. Burdach, A. D. B. XLI, 53 f., 61 f.); endlich, daß er bereits früher ein Lehrgedicht in italienischer Sprache über die Hofzucht verfaßt hatte, von dem sich nur Auszüge und vereinzelte Spuren in seine deutsche Dichtung hinüber retteten. Die nahezu 15000 Verse umfassende Tugendlehre Thomasin’s ist aus der Reaction gegen die sittliche Haltlosigkeit, die der Dichter an seiner Zeit wahrzunehmen vermeint, hervorgegangen. Ausgerüstet mit einer daß damalige gewöhnliche Maaß überschreitenden Gelehrsamkeit und von dem erhöhten Standpunkte seines adeligen Standesbewußtseins zieht er gegen die unstaete, den Fluch der Menschheit, zu Felde und preist die staete die Tugend aus Grundsatz, als Fundament und Inbegriff aller Tugenden. Aber auch die mâze und unmâze, die Gerechtigkeit und die Herrentugend der milte werden daneben eingehend besprochen. Zahlreich und weitverzweigt sind die Quellen, aus denen Thomasin’s Weisheit geflossen ist. Daß die Bibel eine große Rolle in dem Gedichte spielt, darf bei dem für den geistlichen Stand sorgfältig Erzogenen nicht wundernehmen. Die antike Litteratur kannte Th. mit wenigen Ausnahmen nur durch die Vermittelung späterer Schriftsteller (Schönbach a. a. O. S. 39 f. gegen Rückert und Gervinus). Auch mit dem Rechtsleben seiner Zeit, dem geistlichen wie dem weltlichen, zeigt er eingehende Vertrautheit. Freidank’s Spruchweisheit ist ihm nicht fremd. Die französischen und deutschen Moderomane kennt er genau und gibt Anleitungen für ihre Lectüre. Von Kirchenschriftstellern citirt er nur einmal Gregor den Großen, den er aber auch sonst benutzt (Schönbach a. a. O. S. 39). Doch haben noch andere ihm bei der Abfassung seines Werkes wesentliche Dienste geleistet. So Wilhelm von Conches, aus dessen Philosophia moralis er den Rahmen und zum Theil auch die Anordnung seines Werkes entnommen hat. Der Passus von den sieben freien Künsten lehnt sich an den Anticlaudianus des Alanus ab Insulis an, Einleitung und Schluß dieses Abschnittes, die Erörterung der Seelenkräfte und Sinne an daß Büchlein De septem septenis des Johannes von Salisbury, dessen Hauptwerk, der Polycraticus, gleichfalls nicht ohne Einfluß auf den „Wälschen Gast“ geblieben ist. Mit seinen politischen Sympathien steht Thomasin ganz auf Seite des Papstes. Daraus erklärt sich auch seine [95] Gegnerschaft gegen die Papstsprüche Walther’s, mit dem er sonst in vielem übereinstimmt (vgl. Schönbach a. a. O. S. 69 ff.). Er beglückwünscht Leopold von Oesterreich, der mit weltlichem Arm das geistliche Gericht unterstütze und sich so gut darauf verstehe, die Ketzer zu sieden und zu braten. Thomasin’s Sprache verräth den Ausländer in mehr als einer Beziehung. Er ist sich dessen wohl bewußt und bittet seine Leser um Nachsicht. Doch ließ die Wahrhaftigkeit seiner Gesinnung und das richtige Erfassen der Fehler seiner Zeit über solche Mängel leicht hinweggleiten und machte den „Wälschen Gast“ zu einem der beliebtesten und gelesensten Werke des Mittelalters.

Ausgabe von H. Rückert (Quedlinburg 1852). Die Litteratur verzeichnet Goedeke, Grundriß ² 1, 163. – Grundlegend und fast durchweg von neuen Gesichtspunkten geleitet ist die Darstellung Thomasin’s in Schönbach’s von mir mehrfach citirtem Buche: Die Anfänge des deutschen Minnesangs (S. 34–78).
Wu.
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